Kurt Drawert

Schriftsteller

Alles ist einfach

Inhalt
Alles ist einfach, das erste Theaterstück von Kurt Drawert, wurde im Herbst 1995 uraufgeführt.
In Zimmer 228 einer aufgelassenen Krankenstation verbringen zwei ältere Männer, Harry und Pit, seit Jahren die Zeit; in ereignisloser Abgeschiedenheit von der Welt. »Dort, wo du liegst, wird man hereingebracht, und hier, wo ich liege, wird man abgeholt.«

Das Bett am Fenster, mit »Blick in die Welt«, macht den einen der beiden zum Herrn, den anderen zum Knecht, abhängig von dem, was ihm von draußen erzählt wird. Beiden Figuren aber ist eines gemeinsam: die Ungewissheit darüber, tatsächlich vorzukommen. Die Suche nach einem Brief, möglicher Hinweis auf ihre Existenz, durchzieht das Stück. Und zunehmend, gestaltet in grotesken und parabelhaften Szenen, dringt die jüngste Geschichte, am Beispiel der untergegangenen DDR, in den Raum. Ein Spiel voller »schrecklicher Einbildungen«.
https://www.suhrkamp.de/buecher/alles_ist_einfach-kurt_drawert_11951.html

» – ›Wir hatten kein brauchbares Land‹ – ein so schlichtes wie vernichtendes letztes Wort über die DDR. Es stammt von Kurt Drawert, einem, der 1956 dort geboren wurde und dort blieb, bis die drei Buchstaben verschmolzen zum ›D‹. (…) Das unbrauchbare Land ging unter, die Welt aber bleibt die alte. Ihre Bedrohung durch die ›leerlaufenden Betriebe des Denkens‹ (praktikable Ideen sind kaum noch zu haben) sowie fatale Sehnsüchte, die kalte Einsamkeit der Freiheit gegen die Wärme im Sklavenkollektiv zu tauschen, beschwört schon wieder frischverstorbene Gespenster – zum Beispiel den todbringenden Mythos Ost (DDR). Die alten Gefahren sind – ganz einfach – die neuen. Kurt Drawert ist keiner der vielen eifrigen, als Aufklärer getarnten Reaktionäre. Seine Texte sind ideologiefreie Zonen. Sein Stück jedoch ist kein dramatisches Duell, sondern essayistischer, kulturkritischer Crashkurs in Dialogform.«

Aus: »Melancholische Melange: Drawert als Dramatiker« von Reinhard Wengierek, Die Welt am 18.6.1996

 

 

»Regisseur Kai Braak, der seine Karriere 1960 mit Beckett in Darmstadt begann, hat das Stück jetzt im Kleinen Haus uraufgeführt: als makabre Komödie aus dem Geiste Becketts, als witzigen Totentanz durch die jüngste deutsche Geschichte bis hinein in die Gegenwart, als Endspiel im Osten, das im Westen kein Ende nimmt. Denn Harry und Pit spielen sich durch wie Hamm und Clov, wie Pat und Patachon, sie warten wie Wladimir und Estragon, doch werden sie abgeholt – um weiter zu warten.«

Aus: Endspiel im Osten, nichts Neues im Westen. Kurt Drawerts Stück Alles ist einfach in Darmstadt uraufgeführt« von Claudia Schülke, Frankfurter Allgemeine Zeitung am 17.6.1996

 

 

»Kurt Drawerts dramatisches Erstlingswerk ist beachtlich in seiner (…) Kombinierung von Endzeitvisionen und Clownerie, in seiner Konsequenz, auf Wesentliches zu reduzieren, und in Bühnenpräsenz dieses Wesentliche als Abwesenheit zu definieren. Ein Bravourstück außerdem die selbstironische Abschaffung der eigenen Leidenschaft: was immer geschrieben wird, sei Wortmüll, Germanistenfutter, Schrott, sagt Harry, der Abgeklärte. Von Erkenntnisgewinn also kann keine Rede und kein Schauspiel sein. Zu einer solch dialektischen Volte mitten im Stück gehören Courage und trotzige Energie. Alle Achtung.«

Aus: »Wir leben in einer Anstalt. Uraufführung in Darmstadt: Kurt Drawerts Debüt-Stück Alles ist einfach« von Viola Bolduan, Wiesbadener Kurier am 17.6.1996

 

 

»Klaus Ziemann und Peter Hackenberger vermitteln in der Darmstädter Uraufführung sehr eindringlich diese Suche nach einer Identität, das Alte ist weggebrochen, das Neue bietet keinen Halt, und nirgends ist Orientierung. Regisseur Kai Braak lotet den Text Drawerts ohne Mätzchen aus, es ist eine Inszenierung, die ganz bei den Figuren bleibt und mit ihnen ein sehr großes Gespür für das Klima einer Zeit, einer ganzen Gesellschaft entwickelt, für das Zerbröseln all dessen, was manchem ein halbes, ein ganzes Leben lang Orientierung geboten hat. Drawerts Spiel ist kein Politstück im vordergründigen Sinne, keines, das mit schnellen Thesen und Parolen die Welt einteilt in gut und böse, richtig und falsch, aber es ist dennoch ein sehr politisches Stück, das eine Zeit und ihre inneren Verwerfungen auf beklemmende Weise reflektiert, eine Zeit, die von vielen, gerade im Westen, mit deutlicher Distanz und Selbstgerechtigkeit begleitet wurde.«

Aus: »Schuften für die blühende Landschaft. Kurt Drawerts Alles ist einfach im Staatstheater Darmstadt« von Eckhard Franke, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 4.7.1996

1. Szene

Abend, die Bühne ist fast dunkel. Harry und Pit, die nur schattenhaft zu sehen sind, sitzen in ihren Betten. Pit zieht sich die Pinkelente unter die Bettdecke, dreht sich zur Seite und beginnt zu urinieren.

Harry: Immer, wenn ich denken muß, willst du pissen. (Pit unterbricht sich und stellt die Ente unbenutzt zurück. Vorhang)

2. Szene

Morgen, die Bühne ist mäßig beleuchtet. Harry und Pit in ihren Betten wie eben. Das Fenster ist um einen Spalt weit auf und läßt einen Lichtschein herein.

Pit: (Flüsternd) Harry? … (Lauter) Harry!?
Harry: Pit?
Pit: Schläfst du noch, Harry?
Harry: Ja.
Pit: Schade, Harry.
Harry: Ja.
Pit: Harry?
Harry: Ja.
Pit: Hast du wieder nichts geträumt?
Harry: Nein.
Pit: Schade, Harry.
Harry: Ja.
Pit: Ich hab auch nichts geträumt, Harry.
Harry: Nein.
Pit: Nichts. Kein Fetzen von einem Bild.
Harry: Nein.
Pit: Kein Wort, keine Stimme.
Harry: Nein.
Pit: Schade, Harry.
Harry: Ja.
Pit: Wieder nichts geträumt.
Harry: Nein.
Pit: Wieder und wieder nichts. Wie tot gewesen. Wie steif und tot gewesen. Wie steif und kalt und tot gewesen.
Harry: Ja.
(Pit zwickt sich in den Arm, wartet, ob ein Schmerz einsetzt und wiederholt es)
Pit: Nichts.
Harry: Nein.
Pit: Schade.
Harry: Ja. (Nach einer Pause)
Pit: Harry?
Harry: Ja?
Pit: Weißt du, was ich finde?
Harry: Nein.
Pit: Ich finde, du hast dich sehr verändert in letzter Zeit.
Harry: So?
Pit: Du bist still geworden, wortkarg. Früher hast du erzählt und erzählt. Die ganze Welt hast du mir erzählt. Alles…, alles, was los war da draußen.
Harry: Es ist nichts los.
Pit: Aber früher war einmal viel los, erinnere dich.
(Harry richtet sich etwas auf und sieht durch den Fensterspalt)
Harry: Willst du wissen, was ich sehe?
Pit: (Abwehrend) Nein, jetzt nicht. Du bist nicht bei der Sache. Du quälst dich. Da kommt nichts Gutes, nichts Schönes heraus, nichts, was meiner müden Seele aufhelfen könnte.
Harry: Die Dinge sind, wie sie sind. (…)

7. Szene

Gleiches Bild wie Szene 1, als wäre nichts geschehen. Abend, die Bühne ist fast dunkel. Harry und Pit, die nur schattenhaft zu sehen sind, sitzen in ihren Betten.

Pit: (Flüsternd) Harry … (Lauter) Harry!?
Harry: Pit?
Pit: Mir ist schon wieder so schlecht, Harry …
Harry: Du mußt einen Finger in den Mund stecken …, so als wolltest du dich erschießen und als wäre er der Lauf eines Revolvers (demonstriert es). Und dann drückst du …, indem du den Finger fest auf die Zungenwurzel hälst (demonstriert es und muß kurz husten) …, ganz entschieden ab. Es ist sehr einfach. (Nach einer Pause) Alles isher.

»Alles ist einfach«

Stück in sieben Szenen

UA: Staatstheater Darmstadt 1996

Suhrkamp Verlag 1995, es 1951

116 Seiten, DM 14,80
ISBN 3-518-11951-6