Kurt Drawert

Schriftsteller

Steinzeit. Lustspiel.

Inhalt

Das Theaterstück: Familie Huhn hat sich einen Swimmingpool in den Garten gebaut. Aber nicht irgendeinen, sondern den schönsten weit und breit in der Siedlung. Er hat nur einen entscheidenden Nachteil: er kann sein Wasser nicht halten. Das ist um so peinlicher, als dieses Monument des Erfolgs und des Wohlstands noch am 25. desselben Monats eingeweiht werden soll und zu dieser Feier alle geladen sind, die Rang und Namen in der Gemeinde haben. Was also tun, so kurz vor dem Jahrtausendwechsel, mit den Defekten? So nun schneidet der Psychiater Dr. Freudenstein, der die kranke Tochter Anna behandelt und zur Hündin abrichtet, den Gesellschaftskörper am Ende auf, um zu sehen, „ob er ein Herz hat“.

Um dieses Lustspiel, das in einer ebenso absurden wie gigantischen Feier mündet, gruppiert Drawert Erzählungen, in denen er sich als Archäologe betätigt, schauend in die Abgründe, die steinzeitlichen Tiefen unseres Herkommens: In dieser Lage; Irina; Schweigen und Laufen. Traumtext.

» – ›Irritation herzustellen als eine konsequente Folge von Enttäuschung‹, fordert der Autor in einer langen einleitenden Regieanweisung zu seinem Lustspiel. Drawerts zweites Stück (…) schlägt im neuen deutschen Drama einen ganz eigenen Weg ein. Zwar handelt es sich unter anderem, wie viele andere Stücke der neunziger Jahre, auch um eine Familienfarce, doch greift sie nach mehr, als nur einen schmutzigen kleinen Ausschnitt aus einer schmutzigen kleinen Welt zu liefern. „Steinzeit“ bedient sich der Konkretheit der neonaturalistischen Stücke, um damit eine hohe Metapher für eine sozialpsychologische Diagnose zu schaffen, wie sie andererseits als Technik der Überhöhung aus dem poetischen Drama von heute bekannt ist.«

Aus: »Darmstadt. Pathologie 1999: Steinzeit. Lustspiel von Kurt Drawert« von Thomas Irmer, Theater der Zeit, Nr. 5/1999

 

 

» – ›Steinzeit‹ heißt das Lustspiel von Kurt Drawert, das einerseits mit handfesten, zuweilen recht schrillen Slapstick-Elementen operiert und andererseits in jede Szene doppelte Böden einbaut. (…) Seine bitterböse Komödie hat Kurt Drawert umgeben mit kurzen, sehr dichten Prosastücken. In ihrer monologischen Insistenz wirken sie wie Blöcke, die das Gerede der Figuren aus „Steinzeit“ einrahmen und sich davor abschotten. Es sind erinnerte Augenblicke der Angst vor Macht und Gewalt, und das Gefühl der Ohnmacht scheint jedesmal untrennbar verbunden mit einem Mißtrauen gegenüber vorschnellen Gewißheiten, allen überlieferten Hilfeversprechen. Während Elvira Huhn im Stück einen Zauberkünstler engagiert, der über die häuslichen Kalamitäten hinwegtäuschen soll, sind hier die Figuren ganz bei sich, ganz darauf bedacht, ihrer Not durch unverwandtes Erzählen beizukommen.«

Aus: »Aus den Fugen geraten. Kurt Drawerts Steinzeit« von Martin Zingg, Neue Zürcher Zeitung, 29.3.2000

 

»Manchmal denkt man, daß unter all dem Literaturgetöse (…) die leisen Töne ins Unhörbare wispern; ungehört bleiben. Glücklicherweise ist Suhrkamp mutig genug, sich dem nicht zu fügen. Der schmale Band Steinzeit von Kurt Drawert ist solch ein Zeugnis ganz und gar erregender Begabung, einer Sprachmacht, die kaum zu erklären ist. Allein über Drawerts zwei ›Haupt-Worte‹, Stürzen und Abgrund, ließe sich ein Essay schreiben. Dieser 43-jährige ist nicht etwa virtuos, sondern finster, seine Bilder sinken in unser (Unter)-Bewußtsein ein wie die Nachtsonnen Max Ernsts, die zerschnittenen Alpträume Magrittes. Die Prosatexte des Buches, erbarmungslos kurz, doch von einem unendlichen, eisigen Atem, wird man so leicht nicht abschütteln können; einen ›Inhalt‹ haben sie nicht, sowenig wie Gottfried Benns Gedichte (…). Kurt Drawert ist ein Wortmagnetiseur, er taucht den Leser in eine Fabel-Schwärze, in der man tastet und riecht und schmeckt, umherirrt, sich und den Weg verliert, aber eines wahrnimmt: existentielle Not. So schauerlich, so schön, so verfolgend wie Munchs Schrei. Wobei ein zweiter Essay zu ergründen hätte, wie tief eingesunken in Drawerts Gedächtnis-Moor seine DDR-Erfahrung ist – verglichen mit diesen Texten ist das meiste, was über dieses vergiftete Paradies geschrieben wurde, Papperlapapp; weswegen Drawerts jüngster Essay über Günter Kunert so meisterhaft war.«

Fritz J. Raddatz in DIE ZEIT, 13.1.2000

Auszug aus: Steinzeit. Lustspiel. 1. Akt. Vorspiel, 1. Bild.

(Elvira, Herbert und Emmi – eine Puppe im Rollstuhl – sitzen an einer Kaffeetafel vor dem Swimmingpool. Elvira und Herbert an der jeweiligen Stirnseite, Emmi in der Mitte des Tisches und mit Blick zum Publikum. Herbert, der ungepflegt aussieht, liest Zeitung. Die elegant gekleidete Elvira sitzt etwas abgewandt von Herbert und Emmi, damit beschäftigt, kleine Steine in das leere Becken zu werfen. Schlagen sie am Beckenboden auf, ist ein Ton zu hören, der elektronisch leicht verstärkt werden soll und ein schwaches Echo ergibt. Diese Szene hält etwa 30 Sekunden an. Dann wendet sich Elvira Herbert zu.)

I
Elvira: Hörst du es?
(Nach einer Pause)
Elvira: Wie es einen leisen Knacks gibt?
(Nach einer Pause)
Elvira: Einen schrillen, unheimlichen Ton?
(Nach einer Pause)
Elvira: Wenn die Steine auf den Betonboden fallen?
(Nach einer Pause)
Elvira: Wie der Ton nachklingt?
(Nach einer Pause)
Elvira: Sich festsetzt im Kopf?
(Nach einer Pause)
Elvira: Den gesamten Körper erfaßt?
(Nach einer Pause)
Elvira: Ihn peitscht?
(Nach einer Pause)
Herbert: Und quält.
(Nach einer Pause)
Elvira: Und quält?
(Nach einer Pause)
Herbert: Und peitscht.
(Nach einer Pause)
Elvira: Als wäre er nichts als faulendes Fleisch?
(Nach einer Pause)
Herbert: Nichts als faulendes Fleisch.
(Nach einer Pause)
Elvira: Ein Sack Dreck?
Herbert: Ein Sack Dreck.
Elvira: Unser Leben?
Herbert: Ja.
Elvira: Ein Sack Dreck?
Herbert: Ja.
Elvira: Wo schon die Maden herumgehn?
Herbert: Ja.
Elvira: Und dieser Ton?
Herbert: Ja.
Elvira: Wie er triumphiert über uns?
Herbert: Ja.
Elvira: Uns lächerlich macht?
Herbert: Ja.
Elvira: Und beherrscht?
Herbert: Ja.
(Nach einer Pause)
Elvira: Wo waren wir stehengeblieben?
Herbert: Ich erinnere mich nicht.
2. Akt. Finale, 3. Bild.

XI
(…) (Dr. Freudenstein hält das Hirn gegen das Licht und betrachtet es aufmerksam) Sage sie offen, woran sie denkt in Anbetracht dieses unseligen wabernden Haufens? (Anna übergibt sich abermals) Ja, ja, die gute Anna. Kann keine Hirnmasse sehen. Es macht sie mir sympathisch, ihre Unaufgeklärtheit, ihr romantisches Verhältnis zur reinen Natur. Hier, Anna, in diesen Furchen und Schichten ist alles codiert, was der Mensch ist… seit zehntausend Jahren… und länger. Alle Leidenschaften, Lieben, Zerwürfnisse, alle Irrtümer und Kriege, alle Hoffnungen und alle Hinfälligkeiten, die Sprachen der Dichter und die Sprachen der Philosophen und die Sprachen der Wissenschaftler, alle Metamorphosen und Transformationen, alle Progressionen und Regressionen… haben hier ihren Sitz, ihren Computer, ihre Maschine. Die arme Jana, sie ist jetzt eine Hündin, weil es in diesem feinen Apparat… nicht funktioniert hat.
Anna: (Laut) Ja-na! Ja-na!!
Jana: (Laut) An-na! Mut-ter!!
Dr. Freudenstein: (Wirft das Hirn Jana vor die Füße) Nun, wollen wir einmal nicht hysterisch werden vor der Natur, Anna. Gib sie mir noch einmal Zellstoff, bitte, (Anna reicht Dr. Freudenstein Zellstoff) damit wir unseren edlen Hochkulturkörper wieder schön haben. Ist ja eh gleich, was da drin ist in diesem Topf, wenn er nur wieder nach etwas aussieht. Das hatte ja schon Wittgenstein vermutet…, Anna kennt ihn? Nein? Daß da vielleicht nur Sägespäne im Kopf sind. So…, und so…, okay. Jetzt setzen wir unserem Liebling seine Mütze…, also das Schädeldach…, wieder auf…, ziehen die Kopfschwarte ordentlich… zurück… und nähen sie… an der Nackenhaut… fest. So. Die Arbeit eines Friseurs sozusagen, seine Gesellenprüfung. Jetzt kämmen wir noch die Haare, daß wieder etwas Tolle hineinkommt…, spülen die ganze Chose…, haben wir denn keine Brause, Anna? Anna: Defekt, der Herr Dr. Freudenstein. Das mit dem Wasser und dem Swimmingpool, wie soll ich sagen, (ruft zu Elvira und Herbert) Elvira! Herbert! (bekommt keine Antwort) funktioniert nicht. (Nimmt abermals den Staubwedel und wedelt damit am Swimmingpool entlang) Unser kleiner, einsamer Kaspar!
Dr. Freudenstein: Dann bleibt es eben in seinem Dreck, dieses Jahrhundert.

XII
(Glocken läuten, übergangslos grelles Licht und laute Disco-Musik. Alle tanzen wild und ausgelassen durcheinander, Ballons steigen auf, Papierschlangen werden geworfen und Knallkörper explodieren. Das Fest geht von der Bühne in den Zuschauerraum über. Dann fällt, eher beiläufig, der Vorhang. Auf einer Leinwand, die in gleicher Weise wie am Ende des 1. Aktes vom Schnürboden herabgelassen wurde, wird abermals das Wort PAUSE projiziert. Der Vorhang darf sich nicht wieder öffnen, die Schauspieler treten, da das Stück imaginär weiterläuft, nicht noch einmal auf, um den Applaus entgegenzunehmen. Zumindest muß die Irritation im Publikum abgewartet werden, ehe der obligatorische Abgang erfolgt)

»Steinzeit. Lustspiel«

Thaterstück und Prosa

UA: Staatstheater Darmstadt 1999

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999

es 2151, 152 Seiten, DM 16,80
ISBN 3-518-12151-0