Kurt Drawert

Schriftsteller

Alles neigt sich zum Unverständlichen hin

In seinem neuen Langgedicht lässt Kurt Drawert erneut jenen halb fatalistisch-melancholischen, halb sarkastisch-ironischen Ton anklingen, der sein Werk so unverwechselbar macht. Nur ist die Lage, der sich das lyrische Ich ausgesetzt sieht, beinahe noch prekärer geworden. wie die Bewegung eines Flusses seine Stoffe mit sich führt, sie an Land schwemmt oder im Wasser untergehen lässt, um an anderer Stelle wieder aufzutauchen, so bewegt sich der Text durch die Zeit – tragisch wie komisch, nachdenkend wie erzählend, in freier Rede wie metrisch gebunden.
Ein Requiem, ein großer Gesang.

„ ‚Alles neigt sich zum Unverständlichen hin‘ erhebt das mäandernde Selbstgespräch zur großen Kunst.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Angelika Overath

 


„Beeindruckend. Die Semiologie des Denkens ist der Motor seiner poetischen Produktion.“
Deutschlandfunk Büchermarkt, Christian Metz

 


„Den Strom dieser überwältigenden Dichtung kann und soll man also nicht bremsen. Es gibt beim Lesen nur eine Option: absolute Hingabe!“
Frankfurter Rundschau, Björn Hayer

In den 14 „Paragraphen“ genannten Kapiteln seines neuen Langgedichts, das an „Der Körper meiner Zeit“ (2016) anknüpft, lässt Kurt Drawert erneut jenen halb fatalistisch-melancholischen, halb sarkastisch-ironischen Ton anklingen, der seinen Ton so unverwechselbar macht. Nur ist die Lage, der sich das lyrische Ich ausgesetzt sieht, beinahe noch prekärer geworden. Wie die Bewegung eines Flusses seine Stoffe mit sich führt, sie an Land schwemmt oder im Wasser untergehen lässt, um an anderer Stelle wieder aufzutauchen, so bewegt sich der Text durch die Zeit – tragisch wie komisch, nachdenkend wie erzählend, in freier Rede wie metrisch gebunden. Ein Requiem, ein großer Gesang.

„Gewahr werden wir einer herrlich-konfusen Suada im Stil einer Friederike Mayröcker, der ‚alles und überall u. rückwärts u. auf null zurücksetzen‘ will. (…) Kraftlos wirkt das lyrische Ich aber nicht. Im Gegenteil: Seine humorvoll dargebotene Kulturkritik strotzt nur so vor Energie. Während die hiesige Optimierungsindustrie predigt: ‚Werde, wie deine/ Krankenkasse will, dass du bist‘, erkennt man ihm zufolge die Herkunft eines Amerikaners an seinem Oberschenkelfett. (…) Hinzu kommt, dass derweil ‚all die anderen News‘ parallel mitlaufen: ‚verhungernde Kinder hier, verdurstende dort, oder sie ertrinken/ im Mittelmeer (…) Aber zurück zum heiteren Beruferaten.‘ Dass die massive Identitätskrise des lyrischen Ich an keiner Stelle ins Lamento kippt, verdankt sich nicht zuletzt derartig sarkastischen Versen. Selbst in ihrer zynischsten Ausprägung erweist sich Komik hier als Mittel des Widerstands, gegen eine zwischen Verdrängung und Dauerüberforderung abstumpfende Gesellschaft. (…) Den Strom dieser überwältigenden Dichtung kann und soll man also nicht bremsen. Es gibt beim Lesen nur eine Option: absolute Hingabe!

Aus: Björn Hayer: „Komplett vorbei und rückwärts hoch. ‚Alles neigt sich zum Unverständlichen hin‘, ein grandioses Langgedicht von Kurt Drawert.“

Frankfurter Rundschau, 22. Februar 2024 – PDF Download

 

 

 

 

Alles neigt sich zum Unverständlichen hin. Gedicht.

(…)

  • 11) Die letzte Stunde. Vor den Spätnachrichten.

Eine Annonce am Abend hielt mich hellwach: Suche und biete Subjektrest liegt wertlos im Altpapier oder kommt und zum

Fraß für die Hunde. Versuchte herauszufinden, wer so etwas Schönes noch immer besaß, ein S. und womöglich noch ohne $

 

ausgestrichen. Das war klar antiquarisch und nur noch mit Bit- coins, wie sie seit gestern bei ALDI zum Kurs 1 : 37.931,04

wie warme Semmeln unter der Theke weggingen, & auch ich

war mit einer Anleihe von 0,00000Periode 0,1 mit dabei (in Zahlen:

 

meine 2 Euro fünfundzwanzig aus der Altersvorsorge wurden

zu 10 % hypothekenbelastet, was erst einmal hart zur roten Schuldenbank steuert, aber, so er (ich) noch zweiundzwanzig Jahre gut durchhält u. spart, kommen fast. Mein Rechenschieber

klemmt. Gerade jetzt. Ausgerechnet. Immer, wenn es um: eben

die Wurst geht. Metaphorisch gesprochen. Aber wir wissen nun erst einmal wohl, wie sinnvoll es ist. Sich darum zu kümmern.) Ich glich die Gleichung mit meinem Smartphone ab, das wahn-

 

sinnig feinnervig auf wirklich alles reagiert. Manchmal denke ich, es, nicht ich ist der Mensch. Die Erfahrung der persistieren-den Bedürftigkeit u. Insuffizienz generiert klar d. Maschine. Sie schaut dich an – und du schaust zurück u. weißt, dass du nichts

 

bist. Ein wenig mehr als Hundedreck, wenn die Gewerkschaft auf Draht ist. Vorausgesetzt freilich, du hast auch geklebt. – „Hey Siri. Wie ist das Wetter auf Madagaskar ?“ – „Wie auf Helgoland am 22. Juli 2021“. Unglaublich. Diese Infoachse und

 

immer auf dem neuesten Zähler im Schritt. Auch haptisch. Ein Hauch auf das Display + eine Raspelstimme weiblich u. warm

oder männlich u. cool nennt den Preis pro Minute. Da kommt wirklich gar nichts mehr mit. Selbst für den Weg zur Toilette

 

über den Hausflur schlägt sie eine Route vor, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder divers. Im Hintergrund, bei rötlicher Standlicht-

beleuchtung, eine Sonate von Mozart. Eingespielt vor gut einer Stunde. Von einer russischen Militärkapelle. Im Sondereinsatz.

 

An der Grenze zum Vorgarten mir schräg gegenüber, wo unsere Frau Müller ihre Mohnkapseln züchtet. Der neueste Schrei: fuck you Siri. Kostet nur 2 Äpfel + 1 Ei, macht aber irre besoffen. Da war die Staubsaugeröffnung vom letzten Frühjahr die blanke

 

Fehlentscheidung. Die elektronischen Möpse. Gigantisch, was da alles noch Platz hat, so zwischen den Beinen der Betriebs- nachrichten. Auch ohne muskuläre Realentspannung. Es wirkt. Bei den meisten. Mir geht es wie dem Huhn, das jeden Tag 1 Ei

 

gelegt hat und dennoch gleich zur Schlachtung muss. Ein Sturm von Sibirien über die Ukraine bis nach Krautenbach i. Odenwald zieht auf. Insekten sind plötzlich alle verschwunden. Ich sehe es an meiner Fahrzeugscheibe, wenn ich zu ALDI fahre, um neue

 

Bitcoins zu tauschen: Die blanke Leere auf dem Glas. Fast rein. Es gibt so vieles, was die Welt nicht gebraucht hat. Fliegen, Schnaken, Schmetterlinge. Für wen und warum. Produzieren sie

Energie, Frage? (…)

 

35  Die Landschaft ist von Geräuschen durchzogen bis gegen Abend, dann fällt eine große Stille ins Feld, in der nichts mehr erscheint. Ein Frieden könnte es sein, oder die Auslöschung der

Tage, oder die Natur hat sich im Zorn gegen uns gewendet und sendet ihre unheimlichen Boten. Die Welt der Dunkelheit nimmt zu, die Helligkeit ab, die Wörter, bis eben folgten sie dem Flug

einer Schwalbe, die gerade den Sommer verlässt, im Ausschnitt eines Bildes, einer Fotografie, die diesen Moment festgehalten hat, ehe er verschwindet, in seiner Geschichte des Blicks.

 

36 Und wenn ich, wie eine zertretene Schnecke ohne ihr Haus, so ohne Schutz sein werde, ohne eine Hülle, eine Form, die einem Mantel gleicht – dann treibe ich, im Strom nackter Dinge, ab,

 

und irgendwohin, wo auch kein Wort mich mehr findet. Als Kinder versteckten wir uns so, das Gebüsch war die Sprache,
die spitzen Äste, die ins zarte Fleisch der Füße stachen, brachen

wir weg. Obwohl uns zunächst keiner fand, blieben die Sätze doch immer die Sätze und blieb die Welt für immer die Welt. Aber das verstehe ich erst jetzt, in diesem verlorenen Moment,

und so hart mit dem Fuß auf dem zarten Haus einer Schnecke.

 

37 Manchmal denkt man daran, einfach nicht mehr zu atmen. Der Gedanke ist friedlich. Wie ein tropfender Wasserhahn,

der plötzlich still ist. Wahrscheinlich hinkt der Vergleich –

 

aber ich wollte etwas Schönes sagen. Besser als der schrille Ton
einer Kreissäge, wenn sie den Wald zerschneidet. Oder Kinder-geschrei, das einen nichts angeht. Es gibt so vieles, das an den

Nerven rüttelt, man käme, mit weiteren Vergleichen, wohl
an kein Ende. Da möchte man einfach nur die Luft anhalten,
bis das alles vorbei ist.

38 Fast jeden Tag kommt eine Katze, von wilden Kämpfen gezeichnet, an meine Haustür und bittet um Einlass. Manchmal

hat sie ein totes Tier im Gebiss, das sie mir als Geschenk auf die Steintreppe legt. Dann will sie, meistens, über Sartre sprechen, über Das Sein und das Nichts. Oder sie kommt wie ein Gast mit leeren Händen, ohne einen Grund, ohne Erwartung. Ich gieße ihr

Milch in die Schale und erfreue mich daran, dass jetzt keiner etwas sagt.

 

39 Es gibt Momente, da hilft das Pendel, das Frau Müller

mir einmal zu Weihnachten schenkte, tatsächlich. Ich lege mich nieder auf meine Kontoauszüge, links und rechts Mahnpost, der

 

blutige Terminkalender, und schon geht es los. Der linke Arm, fest gegen den Boden gedrückt, hält Kontakt mit den Seelen unter der Erde; indessen der rechte, mit heilig und rechtsherum

 

kreisender Hand, pendelt mich aus. Ich spüre – die Energie, eben noch fremdgesteuert vom Finanzamt meiner Gemeinde, kommt langsam zurück. Die Lust, ein schönes Feuer zu zünden und zuzusehen, wie alles, was aus Papier ist, verschwindet. 

40 Der späte August rollt seine Wiesen zusammen und schaltet den Strom ab. Die letzten noch zuckenden Bienen retten sich

in den Honig des Jahres. Auch sie, fast ohne Führungspersonal.

 

Die Liebenden der Saison sitzen wieder allein und am gleichen Ort wie im Winter. Zwei Schwalben, wenn sie aneinander vorbei in falsche Richtungen fliegen, sehen ebenso aus.

 

Wer kann, lässt sich jetzt heimholen. Von einer Mutter, die überlebt hat, oder den Pflegefachfrauen aus Übersee. Rilkes Haus übrigens, das er sich doch noch gebaut hat, steht morsch

in der Heide. Sonst geht es gut. Außer vielleicht, ich ertrage keine Geschäfte für Bürobedarf mehr.

 

Inhaltsverzeichnis

 

  • 1) Die Würde des Menschen ist.
  • 2) Das Ypsilon der Hysterie.
  • 3) Das verfluchte Objekt a.
  • 4) Anfang + Ende.
  • 5) Die Landschaft schweigt weiter.
  • 6) Miasmen. In jeder Metapher.
  • 7) Die analytische Situation. + Mangel an Fachpersonal.
  • 8) Die Lüge der Liebe kehrt gnadenlos zurück. (Die Frau mit den falschen, hochgesteckten Haaren.)
  • 9) Wo u. warum bin ich weswegen. Mehr als
    1 Sonetten-/kranz (corona / engl.)
  • 10) Am Nullpunktstünde ich gern.
  • 11) Die letzte Stunde. Vor den Spätnachrichten.
  • 12) In Zelten am Rande der Parkanlage. America Metaphern.
  • 13) Dass ihm der Scheitel gerade wie die Falte in der Hose sitzt.
  • 14) Nachträgliche Nacht-/notizen. Psalmen. Gebete.

        Leseanleitung[1]

        Anmerkungen. Danksagung. Fotolegende.

        [1] Eine Empfehlung. In einfacher Sprache.

        »Alles neigt sich zum Unverständlichen hin. Gedicht.«

        Gedicht

        C.H. Beck Verlag, München 2024

        176 S., mit 42 Abbildungen, gebunden
        ISBN 978-3-406-81379-5