Kurt Drawert

Schriftsteller

Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte

„Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“ ist der erste umfangreiche Roman des vor allem als Lyriker und Essayisten bekanntgewordenen Autors. In Anverwandlung an den spektakulären Kriminalfall des Kaspar Hauser im 19. Jahrhundert nimmt Kurt Drawerts Roman das Motiv des verwahrlosten Findlings auf, um vom Untergang der DDR und dem Übergang in eine neue Zeit zu erzählen.

Dieser verunstaltete „Kaspar der Revolution“ erinnert sich mit schonungsloser Sprachgewalt, so ernst wie komisch, so realistisch wie surreal, an sein Leben als bestürzende Höllenfahrt durch die neun „Schuldbezirke“ der „Deutschen D. Republik“. Er ist ein Zeuge jener Nichtwelt unter der Erde, in der sich die Proletarier aller Länder einst im Sumpf vereinigt haben. In seinen Merk- und Beobachtungsheften notiert dieser „ostdeutsche Erdling“ die Zeit in der Zelle mit Holzpferd und Abfallkübel bis er Titelaufschreiber, Magazinläufer und Nachtwächter in der „Nationalen Bücheranstalt“ wird, ehe er nach dem Ende der Höhlenrepublik an die Grenze zum feindlichen Ausland nach oben gelangt. „Hier und da sahen wir noch Betonmauerreste, aus den Erdfugen gesprengte Stahlwände und Schachteinlässe, Zollbaracken und Kontrollpostentürme, aber alles nur noch in der eher albtraumhaften Verweisung darauf, einmal existiert zu haben, wie letzte, locker herumliegende Knochenrückstände, die an ein Schlachtfest erinnern.“ Seine phantasiereichen Erzählmonologe sind ein Antrag auf „Anwesenheitsberechtigung“ in einem sich selbst unselbstverständlichen Dasein: Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte. Kurt Drawerts Existenzbilder vom „Verbrechen am Seelenleben des Menschen“ sind unabweislicher denn je und eine Metapher auf unsere moderne innere Obdachlosigkeit.

 

»Bösartiger, funkelnder, geistreicher ist über den Untergang der DDR noch nicht geschrieben worden.«

Jörg Magenau, Der Tagesspiegel, 19. Oktober 2008

 

»So sprachmächtig wie hier wurde noch nicht vom Untergang der DDR erzählt.«

Hajo Steinert, Der Tagesspiegel, 19. Oktober 2008

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»Mit diesem Buch ist Kurt Drawert ein großer Wurf gelungen, ein wichtiges Buch. In ein paar Generationen spätestens wird es als das gelesen werden können, was es ist: als ein Epos von nationalem Rang.«
Gabriela Jaskula, NDR Kultur, 20. Juli 2008

 

»Die grotesken Spielarten der DDR-Wirklichkeit werden von Drawert in Sprache übertragen, wobei er auf realistische Beschreibungs-und Deutungsversuche verzichtet. Die Geschichte mutet phantastisch an, aber sie ist gerade in ihrem phantastischen Gehalt von beklemmender Realität. (…) Ohne im Rauschhaften zu schwelgen, wie es die Surrealisten taten und ohne ihren gesellschaftlichen Optimismus zu teilen, kehrt Drawert in seinem glänzend geschriebenen Roman das Unterste nach oben.«
Michael Opitz, Deutschlandradio Kultur, 1. August 2008

»(…) das ist ein schlagartig erhellender Gedanke: der totalitäre Staat als ein Staat, der seine Bürger in einem ständigen, diffusen Schuldgefühl hält, in einem Gefühl, dem Staat etwas zu schulden – von diesen Schuldbezirken gibt es neun. Drawerts Erzähler lebt im neunten, dem schrecklichsten, in einer Stadt namens ›Leiden‹ – zusammengezogen aus Leipzig und Dresden – aber natürlich auch ein sprechender Name – und hier wächst der Erzähler auf – Jugend, Pionierzeit, Musterung, … Aushilfstätigkeit als Nachtwächter in der nationalen Bücheranstalt von Leiden, wo er Bücher aus dem Giftschrank abschreibt und unter das Volk bringt – was die Fundamente dieses Untertagestaates nachhaltig ins Wanken bringt – so daß er letztendlich implodiert. – Und das ist dann nur der grandios aberwitzige Abschluß von Drawert / Kaspar Hausers DDR-Geschichte, und die ist voll von herrlich absurden, aberwitzigen Szenen. (…) Dieser Roman ist eben beides, er ist Satire und der überaus gewissenhafte Versuch einer geschichtlichen Tiefenbohrung, und in beiderlei Hinsicht durchaus gelungen.«
Alf Mentzer, Hessischer Rundfunk, 9. September 2008

 

 

 

»So böse und bitter, so rücksichtslos und mit so viel schwarzem Humor ist dieses Land (…) wohl noch nie attackiert worden. (…) Kurt Drawerts Roman ist eine fulminante Abrechnung mit dem Unterdrückungssystem DDR, ein Befreiungsschlag, eine wüste Sprach-Attacke, eine Geisteraustreibung, ein höhnischer Kommentar zum einstmals real existierenden Sozialismus: ›Das war sie, die Ekstase der Revolution…‹.«
Claus-Ulrich Bielefeld, DIE WELT, 20. September 2008

 

»Ebenfalls eine fantastische Konstruktion ist der erste Roman des Lyrikers und Essayisten Kurt Drawert, ›Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte‹. Den sonderbaren Fall des verwahrlosten Findlings Kaspar Hauser aus dem 19. Jahrhundert vor Augen, läßt der Autor seinen ›ostdeutschen Erdling‹ eine unwirkliche, apokalyptische Welt in neun ›Schuldbezirken‹ der ›Deutschen D. Republik‹ durchschreiten. Die absurden, grotesken Situationen und Monologe wollen Metaphern der inneren Obdachlosigkeit unserer Zeit sein. Eine denkbare Reminiszenz an die Deutsche Surreale Republik.«

Rainer Schmitz u.a., Focus, 13. Oktober. 2008

 

»Dieser verunstaltete ›Kaspar der Revolution‹ erinnert sich so ernst wie komisch, so realistisch wie surreal an sein Leben als Höllenfahrt durch die neun ›Schuldbezirke‹ der ›Deutschen D. Republik‹.«
Gerd Schäfer, SR 2 KulturRadio, 7. November 2008

»Eigenwillige muttersprachliche Antwort auf Fehlentwicklungen des geteilten Vaterlandes (…) Der Roman ist dementsprechend mit einer kunstvollen Zurückhaltung im Ausdruck abgefaßt; die Sprache unternimmt es, den anfänglichen Zustand der Armut, niemand redet wie ein Klassiker, hinter sich zu lassen. Wirklichkeitsgetreu, angemessen ebenfalls in der Wortwahl, wird von Menschen fernab eines würdigen Lebens, buchstäblich von einem versunkenen Leben, berichtet.«
SR 2 KulturRadio,8. November 2008

 

»Es kommt auf derart hohem stilistischen wie intellektuellem Niveau daher, daß es allein durch seine Qualität (…) den Tand der applaudierenden Animationsliteratur beiseite wischt. (…) Diese Prosa ist von einem geradezu bestürzenden Anspruch; sie versucht in immer neu ausschwingenden Satzgirlanden das selbst gestellte Gebot einzuhalten, ›nach einer Sprache zu suchen für die Geschichte am anderen Ende der Wirklichkeit‹. Das ist die eine grandiose Seite dieses Kunstwerks: Der Autor bildet die Welt nicht ab, sondern erschafft mit seiner Sprach- ›Kunst der Fuge‹ eine ganz eigene, nichtrealistische Welt; er selber ist, und damit wir alle, ›als Staub der Geschichte, mit Sprache vollgesudelt (…). Im Sinne der großen Verwerfung, eines fast mittelalterlichen dräuenden taedium vitae, ist der Roman von giftiger Welthaltigkeit.«

Fritz J. Raddatz, Die Zeit, 20. November 2008

 

»Während andere Autoren minuziös ihre Familiengeschichte aus der untergehenden DDR retten, steigert er seine Geschichte zum Gleichnis des Totalitären überhaupt. Weiter noch: zum Bild existentieller Verlorenheit.«

Samuel Moser, Neue Zürcher Zeitung, 20./21. Dezember 2008

 

»Die Sprache ist das einzige Widerstandspotential des Romans. (…) Jeder schöne Satz ist nicht nur schön, er bildet zugleich einen Angriff auf die mediokre Realität, die mit ihm nicht mithalten kann. Die Sprache ist das gefährliche Instrument, das Bastionen stürzt, und Drawert ist ihr wunderbarer Prophet.«

Anton Thuswaldner, Die Furche, 9. Januar 2009

 

»Das beste Werk über die Wendezeit ist da! Mit Sprachgewalt, Witz und einer treffenden Systemanalyse hat der vor allem als Lyriker und Essayist ausgezeichnete Kurt Drawert mit seinem ersten großen Roman die DDR aufs Korn genommen (…)

Der Autor führt uns einer DDR vor Augen, in der der Einzelne kein Existenzrecht hatte. So exakt hier der SED-Staat in seiner bürokratischen Brutalität gezeichnet wird, so befreiend sind Sprachkunst uns Phantasie dieses Romans, die die Realität demaskieren und ihre Absurdität auf die Spitze treiben. Ein skurriles Meisterstück, das dem aberwitzigen Geist des Totalitarismus beeindruckend nahe kommt.«

Henriette Ärgerstein, Rheinischer Merkur, 29. Januar 2009

 

»In ›Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte‹ unternimmt Kurt Drawert eine Generalabrechnung mit dem, was für ihn DDR war und legt eine Mischung aus postmodernem Palimpsest und satirischer Schelmensaga vor. (…) Drawerts Unterfangen hat aber auch eine sprachphilosophische Dimension. Das manische Gerede seines Helden legt einerseits die Sprachmechanismen der DDR bloß, spürt den Vergiftungen und Beschädigungen durch Sprache nach und bemüht sich zugleich, zu einem neuen Sprechen über die Wirklichkeit vorzudringen. (…) Dies ist ein wichtiges Buch, ein Roman der Notwehr gegen die noch nicht untergegangene DDR, jenseits aller ostalgischen Vereinnahmungen.«

Maike Albath, Süddeutsche Zeitung, 30. Januar 2009

 

»Die Vorzüge von Kurt Drawert zeigen sich aber vom ersten Satz an in der Sprache. Hier verrät sich die Überlegenheit des Lyrikers, der nichts dem Zufall überläßt. Ganz leichthin hantiert er mit einem reichen verbalen Instrumentarium und schiebt Wörter wie auf einem Schachbrett hin und her. Dazu kommt eine ausgeprägte Musikalität, die sich in Rhythmisierung und Melodie des Sprachflusses niederschlägt – alles Faktoren, die den Leser beeindrucken. Kurt Drawerts Sprache ist von gläserner Klarheit. Nie muß er seine Stimme laut erheben. Mit unheimlicher Präzisionsarbeit gelingt es ihm, in die finstersten Seelenwinkel seiner Figuren hineinzuleuchten und die groteskesten Zumutungen des Untertanenstaates bloßzustellen. Dieses Buch vibriert nur so

»Die Sprache ist das einzige Widerstandspotential des Romans. (…) Jeder schöne Satz ist nicht nur schön, er bildet zugleich einen Angriff auf die mediokre Realität, die mit ihm nicht mithalten kann. Die Sprache ist das gefährliche Instrument, das Bastionen stürzt, und Drawert ist ihr wunderbarer Prophet.«

Anton Thuswaldner, Die Furche, 9. Januar 2009

 

»Das beste Werk über die Wendezeit ist da! Mit Sprachgewalt, Witz und einer treffenden Systemanalyse hat der vor allem als Lyriker und Essayist ausgezeichnete Kurt Drawert mit seinem ersten großen Roman die DDR aufs Korn genommen (…)

Der Autor führt uns einer DDR vor Augen, in der der Einzelne kein Existenzrecht hatte. So exakt hier der SED-Staat in seiner bürokratischen Brutalität gezeichnet wird, so befreiend sind Sprachkunst uns Phantasie dieses Romans, die die Realität demaskieren und ihre Absurdität auf die Spitze treiben. Ein skurriles Meisterstück, das dem aberwitzigen Geist des Totalitarismus beeindruckend nahe kommt.«

Henriette Ärgerstein, Rheinischer Merkur, 29. Januar 2009

 

»In ›Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte‹ unternimmt Kurt Drawert eine Generalabrechnung mit dem, was für ihn DDR war und legt eine Mischung aus postmodernem Palimpsest und satirischer Schelmensaga vor. (…) Drawerts Unterfangen hat aber auch eine sprachphilosophische Dimension. Das manische Gerede seines Helden legt einerseits die Sprachmechanismen der DDR bloß, spürt den Vergiftungen und Beschädigungen durch Sprache nach und bemüht sich zugleich, zu einem neuen Sprechen über die Wirklichkeit vorzudringen. (…) Dies ist ein wichtiges Buch, ein Roman der Notwehr gegen die noch nicht untergegangene DDR, jenseits aller ostalgischen Vereinnahmungen.«

Maike Albath, Süddeutsche Zeitung, 30. Januar 2009

 

»Die Vorzüge von Kurt Drawert zeigen sich aber vom ersten Satz an in der Sprache. Hier verrät sich die Überlegenheit des Lyrikers, der nichts dem Zufall überläßt. Ganz leichthin hantiert er mit einem reichen verbalen Instrumentarium und schiebt Wörter wie auf einem Schachbrett hin und her. Dazu kommt eine ausgeprägte Musikalität, die sich in Rhythmisierung und Melodie des Sprachflusses nieders

von leisem Hohn, der zersetzend wirkt und die Verhältnisse wortlos entlarvt. (…) Kurt Drawert hat eine bitterböse Parabel auf die DDR, einen Schlüsselroman zur eigenen Selbstwerdung und eine Diagnose der inneren Obdachlosigkeit ihrer damaligen Bürger geschrieben. Es ist eine der rücksichtslosesten literarischen Abrechnungen mit dem Regime des subtilen Terrors geworden. Der Stachel im Fleische war ihm die eigene Vergangenheit. Es brauche keine Zeugnisse mehr, sagt einmal Kaspar Hauser zu Feuerbach, daß er ein Folteropfer gewesen sei, nämlich ‚ein Folteropfer sehr feiner und spurloser und körperlich nicht nachweisbarer Art. Mehr ein Sprachfolteropfer, abwesend und unmündig gehalten.«

Pia Reinacher, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. März 2009

 

»Kurt Drawert, 1956 in Brandenburg geboren und bisher durch Gedichte und Essays hervorgetreten, war einer von ihnen. Der Roman mit dem lyrischen Titel ‚Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte’ ist sein erstes Erzählwerk. Und damit ist ihm ein Meisterwerk gelungen. Das Motiv des verwahrlosten Findlings Kaspar Hauser aufgreifend, erzählt das Buch mit dem Phantasiereichtum der ‚Blechtrommel’ und der Sprachkraft von Handkes ›Kaspar‹ vom Ende der DDR, die in eine an Dantes ›Inferno‹ gemahnende Unterwelt verlegt wird. Gerade weil Drawerts Buch ohne jeden erzählerischen Realismus auskommt, gelingt es ihm, ein sprachlos machendes Porträt der beklemmendsten Realität des Lebens in einer Diktatur zu entwerfen. Ein unverzichtbares Gegenstück zu Tellkamps Bürgertum-Epos ›Der Turm›.«

Wiener Zeitung, 4. Juli 2009

Woher? Wohin?

Wir liebten die Welt unter der Erde. Jeder war hingerissen von der Nutzlosigkeit seiner Arbeit, die Maschinen wirbelten den Staub durch die Luft, daß es eine Freude war, Zeuge zu sein, das ganze Jahrhundert betreffend. Ja, wir waren der Zukunft zugewandte Leute, an was auch sonst sollten wir uns halten. Die Luft war angenehm abgestanden, der Raum annähernd dunkel. Es war gut für alle, die hin und wieder die Augen verschließen und kurz einschlafen wollten. Nicht lange, fünf Sekunden vielleicht, und auch ich war oft noch einmal weggenickt, morgens. Es gab viel freie Zeit, für die meisten. Die Steine hatten nur auf ein Fließband gelegt, und das Fließband hatte nur an- und ausgestellt zu werden, und das war schon der ganze, einfache Tag. Die Steine indessen hatten sich immer in Bewegung befunden, in Arbeit, sie waren die wirklichen Helden, nicht wir, wie gelegentlich behauptet wurde. Verkanteten sich die Blöcke in der Trommel, was dann passierte, wenn einer wollte, daß es passiert, da er besonders müde war und der Ruhe bedurfte, kam es zum Stau. Aber auch die anderen schliefen fest ein in diesen Momenten, was sehr solidarisch aussah, ein Bild voller Frieden und Eintracht, wie eine Herde schlafender Schafe. Gut, ich habe nie schlafende Schafe gesehen in diesem halbtoten Leben, aber vielleicht spielt auch das keine Rolle. Jedenfalls Strom weg, Maschine kaputt und so weiter. Ein Techniker mußte sich vom Mutterbetrieb weit in unseren Fuchsbau verirren. Keiner von uns konnte sagen, wie oft er unterwegs umsteigen mußte und wie tief er fuhr, um hier seinen Dienst anzutreten. Es war immer derselbe, nur daß er älter wurde. Wir lebten ja mit ihm, waren angewiesen auf seine Hilfe, gewöhnten uns aneinander und sahen plötzlich mit Schrecken, daß er keine Haare und keine Zähne mehr hatte, als er im Licht stand, vor uns, etwas schüchtern, aber dennoch einem Heiligen ähnlich. Seine weit offenen, unbewegten Augen stierten lange in etwas wie einen Kabelschacht, er tastete mit dem Fuß nach der Schwelle, über die zu stürzen den sicheren Tod bedeutet hätte, Tutti, auch das muß gesagt sein, war blind. Wir riefen ihn alle Tutti, schon am ersten Tag vor ich weiß nicht wie vielen Jahren, alle gemeinsam, Tutti, und andere Namen, glaube ich, kannten wir gar nicht. Ich sehe noch, wie er den Tunnel herab und in den Keller hereinkommt, auf stolze Art jung, schwarze, dauergewellte Haare, wie für die Ewigkeit frisiert. Also hereintritt und vor uns steht und von allen, von allen gleichzeitig Tutti gerufen wird. Ein Lichtstrahl brach sich in seinen gläsernen, blanken, hervorgequollenen und uns schon damals ungewöhnlich matt erschienenen Augen und blitzte auf uns herab. Sehr starker Eindruck. Er hatte etwas von Jesus, möchte ich sagen, unser Klempner für gewisse Stunden. Tutti also tastete zunächst mit dem Fuß nach jener Schwelle, über die zu treten sich instinktsichererweise keiner getraute. Jetzt begann eine uns immer wieder faszinierende Kleinarbeit mit den Spitzen der Finger, den Verteiler entlang, über die Steckdosen und Sicherungen hin und an unzähligen Schnüren und Drähten vorbei, herauf und herunter und hin und her, bis er, über das feine Gespür seiner Hände, auf die Stromquelle stieß. Sie hatte er gesucht, sie war das Geheimnis aller Erfolge, die Augen, sagte Tutti, nützen hier sehr herzlich wenig. Das Gespür ist entscheidend, das Talent, den Reizstreifen zu finden mit seiner Rute, seiner Wünschelrute. – Ja, ja, sagte Tutti, noch blau im Gesicht und zitternd am ganzen Körper, wenn gar nichts geht, hilft die Pißwasserprobe, diese Blasenfontäne auf einen Kuhkoppeldraht, der noch am Netz hängt. Tutti war einmalig sportlich, der Strom hatte ihn zäh werden lassen und erfahren dem Leben, nicht uns gegenüber. Er verfügte über eine derart ungewöhnliche, orthopädisch gar nicht nachzuvollziehende Elastizität, die Glieder im allgemeinen, aber hauptsächlich das Rückgrat betreffend, daß er über Untiefen oder Hindernisse hinweg stehen konnte wie ein zur Schlaufe gebogener Draht, rückwärts wie vorwärts. Nicht selten schob sich noch der Kopf durch das O seiner Beine, die Arme hantierten wie mächtige, von der Stirn aus ins Maschineninnere greifende Fühler, und der Körper mit seinem nackten menschlichen Fleisch umhüllte das gefährlich freiliegende Hochspannungskabel, als wäre er ein Mantel aus Kunststoff, unser Tutti. Von einem Tod durch Verbrennen trennten ihn oft nur wenige Millimeter, die wir ihm alle sehr herzlich gönnten. Aber wie gesagt, das waren noch die gesprächigen Zeiten. Später tauschten wir kaum noch Worte, nach all den Jahren, man kann es schon Ehe nennen. Es ist ja wohl doch so, daß wir uns in vielleicht einer, vielleicht zwei Stunden alles zu erzählen vermögen, was auf der Seele herumliegt und gesagt werden will. Dann schon gehen die Wiederholungen los, die fiktiven Verlängerungen, die Legenden, um sich noch etwas bei Stimmung zu halten und im Gefühl zu betrügen, das Leben sei bunt. So waren auch wir sparsam mit unseren Worten, geizten am Ende, die letzten zehn Jahre, mit jeder Silbe. Eine sehr schöne Sprache entstand, aus wenigen Lauten, wie bei klugen Schimpansen. Jeder wußte von jedem ausnahmslos alles. Nur über eines haben wir nie gesprochen, ob Tutti jemals eine Vermutung darüber hatte, daß die Pannen beabsichtigt waren, um besser schlafen zu können. Nun sahen wir ihn im Licht, unseren Jesus, er wirkte auf uns wie leidend gestorben und vergeblich auf seine Auferstehung wartend, wie es vertraglich vielleicht abgemacht war. Jedem war klar, als er ihn so stehen sah, ohne Hut auf der Glatze und ohne Zähne im Mund, den er noch einmal kühn zum Hühnerpo spitzte, um jedem mit einem Bussi Servus zu sagen, aber davon vielleicht ein anderes Mal mehr, von dem Charme, wie er unter uns Proletariern geherrscht hat. Immer Spaß irgendwie, immer gute Laune, viel Schlaf, tagsüber. Keine gräßlichen Pflanzen mit ihrem Anspruch auf Wasser und Licht, kein Kindergeschrei oder nur selten, von draußen, wenn Tutti kam und die Klappe nicht hinter sich zuschob, der blaue Himmel, der dann wie ein Sargdeckel drückte, wirklich sehr schrecklich. (…)

Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte

Verlag C. H. Beck, München 2008

117 Seiten, Hardcover
EUR 19,90
ISBN 978-3-406-57688-1