Kurt Drawert

Schriftsteller

Steinzeit

Inhalt

Familie Huhn – er ein Architekt ohne Auftragschancen, sie nörgelnde Ehefrau, die Schwester Anna und die schon tote Mutter in einem Rollstuhl, die schizophrene Tochter Jana und der coole Sohn Jan – hat sich einen Swimmingpool in den Garten bauen lassen. Aber nicht irgendeinen, sondern den schönsten weit und breit in der Siedlung. Er hat nur einen entscheidenden Nachteil: Er kann sein Wasser nicht halten. Das ist umso peinlicher, als dieses Monument des Erfolges und des Wohlstands noch am 25. desselben Monats eingeweiht werden soll und zu dieser Feier alle geladen sind, die Rang und Ansehen haben: der Herr Streitvogel vom Bauamt, auch Bobo genannt, der Makler Herr Meise und die heiligen Damen Amanda und Almeida, die Nachbarn Harald und Gertrud Kiesel und der Herr Fabian, artist´s agent, der Psychiater Dr. Freudenstein und die Arbeiter und Reporter natürlich. Was also tun, so kurz vor dem Jahrtausendwechsel, mit den Defekten? Auch der Künstler Ernesto kann nicht mehr helfen, und so schneidet Dr. Freudenstein den Gesellschaftskörper am Ende fachgerecht auf, um zu sehen, ob er ein Herz hat. Um dieses Lustspiel, das in eine gigantische Feier mündet, gruppiert Drawert einige Prosatexte, in denen er sich als Archäologe betätigt, schauend in die Abgründe, die steinzeitlichen Tiefen unseres Herkommens. t. .

» – ›Irritation herzustellen als eine konsequente Folge von Enttäuschung‹, fordert der Autor in einer langen einleitenden Regieanweisung zu seinem Lustspiel. Drawerts zweites Stück (…) schlägt im neuen deutschen Drama einen ganz eigenen Weg ein. Zwar handelt es sich unter anderem, wie viele andere Stücke der neunziger Jahre, auch um eine Familienfarce, doch greift sie nach mehr, als nur einen schmutzigen kleinen Ausschnitt aus einer schmutzigen kleinen Welt zu liefern. „Steinzeit“ bedient sich der Konkretheit der neonaturalistischen Stücke, um damit eine hohe Metapher für eine sozialpsychologische Diagnose zu schaffen, wie sie andererseits als Technik der Überhöhung aus dem poetischen Drama von heute bekannt ist.«

Aus: »Darmstadt. Pathologie 1999: Steinzeit. Lustspiel von Kurt Drawert« von Thomas Irmer, Theater der Zeit, Nr. 5/1999

 

 

» – ›Steinzeit‹ heißt das Lustspiel von Kurt Drawert, das einerseits mit handfesten, zuweilen recht schrillen Slapstick-Elementen operiert und andererseits in jede Szene doppelte Böden einbaut. (…) Seine bitterböse Komödie hat Kurt Drawert umgeben mit kurzen, sehr dichten Prosastücken. In ihrer monologischen Insistenz wirken sie wie Blöcke, die das Gerede der Figuren aus „Steinzeit“ einrahmen und sich davor abschotten. Es sind erinnerte Augenblicke der Angst vor Macht und Gewalt, und das Gefühl der Ohnmacht scheint jedesmal untrennbar verbunden mit einem Mißtrauen gegenüber vorschnellen Gewißheiten, allen überlieferten Hilfeversprechen. Während Elvira Huhn im Stück einen Zauberkünstler engagiert, der über die häuslichen Kalamitäten hinwegtäuschen soll, sind hier die Figuren ganz bei sich, ganz darauf bedacht, ihrer Not durch unverwandtes Erzählen beizukommen.«

Aus: »Aus den Fugen geraten. Kurt Drawerts Steinzeit« von Martin Zingg, Neue Zürcher Zeitung, 29.3.2000

 

»Manchmal denkt man, daß unter all dem Literaturgetöse (…) die leisen Töne ins Unhörbare wispern; ungehört bleiben. Glücklicherweise ist Suhrkamp mutig genug, sich dem nicht zu fügen. Der schmale Band Steinzeit von Kurt Drawert ist solch ein Zeugnis ganz und gar erregender Begabung, einer Sprachmacht, die kaum zu erklären ist. Allein über Drawerts zwei ›Haupt-Worte‹, Stürzen und Abgrund, ließe sich ein Essay schreiben. Dieser 43-jährige ist nicht etwa virtuos, sondern finster, seine Bilder sinken in unser (Unter)-Bewußtsein ein wie die Nachtsonnen Max Ernsts, die zerschnittenen Alpträume Magrittes. Die Prosatexte des Buches, erbarmungslos kurz, doch von einem unendlichen, eisigen Atem, wird man so leicht nicht abschütteln können; einen ›Inhalt‹ haben sie nicht, sowenig wie Gottfried Benns Gedichte (…). Kurt Drawert ist ein Wortmagnetiseur, er taucht den Leser in eine Fabel-Schwärze, in der man tastet und riecht und schmeckt, umherirrt, sich und den Weg verliert, aber eines wahrnimmt: existentielle Not. So schauerlich, so schön, so verfolgend wie Munchs Schrei. Wobei ein zweiter Essay zu ergründen hätte, wie tief eingesunken in Drawerts Gedächtnis-Moor seine DDR-Erfahrung ist – verglichen mit diesen Texten ist das meiste, was über dieses vergiftete Paradies geschrieben wurde, Papperlapapp; weswegen Drawerts jüngster Essay über Günter Kunert so meisterhaft war.«

Fritz J. Raddatz in DIE ZEIT, 13.1.2000

Schweigen

Der Pfeil war aufgelegt, der Bogen gespannt, ich erinnere mich seines angstvollen Blickes, wie Gejagte ihn haben, ich erinnere mich des langsam zerfließenden Auges, und ich werde gewartet haben bis heute, dafür ergriffen zu werden und befreit von diesem Bild, doch sie werden geschwiegen haben, und ihr Schweigen sollte meine Erniedrigung sein. Andererseits, dachte ich, würde das vor meinen Augen erschienene, zu erlegende Tier überleben, würde es Witze über den Schulhof verbreiten, und schutzlos würde ich sein und meiner Schwäche und Nachsicht erliegen. Es hätte keine Entschuldigung gegeben, keine Erklärung dafür, Robert nicht zu killen, wie sonst nur ich gekillt worden bin. Sie hetzten mich über den Schulhof, weil ich ein Jude war, ein roter Jude, ein Kommunistenjude, eine Judensau. Dann, weil ich ein Nigger war, ein dreckiger Nigger, ein stinkender Nigger. Dann, weil ich ein verschlagener, gefährlicher Russe gewesen bin. Es hing vom Wochentag ab, was ich war und als welche Kreatur ich gekillt werden sollte. Dann lief ich, ein Jude, ein Nigger oder ein Russe, über den Schulhof wie eines der Hühner des meiner Familie benachbarten Bauern während der Schlachtung; der Kopf, der liegenblieb auf dem Holzpflock; der Leib, der sich plötzlich flatternd erhob und vielleicht zehn, vielleicht zwanzig Meter weit durch die Luft flog, stürzte, sich im Dreck wie ein Kreisel drehte, dann auf den Beinen zu stehen kam und in gerader Linie zum Maschenzaun flitzte, wo an geeigneter Stelle ein Schlupfloch ausgescharrt und provisorisch mit Stroh geflickt war; wie die Kreatur ohne Kopf unter die Drahtkante schlüpfte und im Heidegras verschwand, desertierte, sagte der Nachbar; wie sie liegen blieb schließlich und vom Hals her dickflüssig auslief; wie wir sie später zu essen bekamen, in Anbetracht einer über den Gartenzaun beschlossenen Freundschaft des Bauern mit meinem Vater, in Anbetracht einer gemeinsamen schlesischen Herkunft, in Anbetracht des Weihnachtsfestes, an dem noch immer der Hühnerkopf im Blut seines Lebens auf dem Schlachtholz vergessen herumlag, an dem das Auge mir zusah, wie ich es, wahrscheinlich weinend, angeschaut habe. Ein vom Futter getrennter, kostbarer Knopf, sagte ich leise, und drehte den Hühnerkopf um. Die jetzt nach oben gewendete Seite aber war leer an der Stelle, an der ein Auge gewesen sein muß. Die jetzt nach oben gewendete Seite des Hühnerkopfes war nicht leer, ich wußte nicht mehr, wie ich zu dieser Annahme kam, doch das zerfließende Auge vor meinem inneren Auge war grausam. Später werde ich es jeden Tag sehen, weil niemand mit mir darüber gesprochen haben wird. Dieses Schweigen wird dem erloschenen Blick immer ähnlicher sein, und in ihm werde ich gerichtet. Vorher lief ich über den Schulhof, schaufelte mit den Händen an einer geeigneten Stelle des Zaunes die Erde zur Seite, drückte meinen Körper fest in die kleine, entstandene Mulde und schob ihn, vorsichtig, unter dem Maschenzaun hindurch. Ich hätte nicht desertieren sollen, sagte Schröder, der aus der Ferne zusah, wie ich auf dem Schulhof gekillt worden bin, anderntags. Deutsche hauen nicht ab. Ganz anders in den polnischen Fortsetzungsfilmen am Sonntagnachmittag. Serien des Krieges für die Familie, in denen vier Partisanen zahllose Nazis vertrieben, im ständigen Rückzug stolpernde Karikaturdeutsche, lächerliche, zum Lachen schiefe Verbrecherfiguren, Faschistenpack mit zu großen Mützen und zu weiten Hosen. Witzvorlagen, wäre der Krieg nur nicht eine so ernste, blutige Fabrik. Da wollten wir aber alle nicht zugehörig sein, und die Führer beschlossen an einem Montag, ich sei doch in Wahrheit ein elendes, niederträchtiges Nazischwein. Fortan bin ich montags immer ein Nazi gewesen, auf der Flucht über den Schulhof wie kopfloses Vieh. Deutsche hauen nicht ab. Schröder ließ Aufstellung nehmen, links die Roten und rechts die Schwarzen, bewaffnet mit ausgesucht frischen, elastischen Kieferzweigen. Auch die Führer standen vor Schröder und zeigten die Waffen und brachen folgsam die Spitzen vom Ast. Schröder, der Pädagoge, hatte Angst vor zerstochenen, über das Nasenbein auslaufenden Kinderaugen. Dann rannten wir aufeinander zu und peitschten aufeinander ein und schlugen uns die fremde, unverständliche Geschichte um die Ohren, die unseren Vätern gehörte. Es wußte ja niemand, wo er hergekommen war, und selbst die Führer hatten keine Wahrheit im Blick und wechselten täglich die Worte für ihre Feinde. Aber wie man fachgerecht quälte, wußten sie. Wie sie mich an einen im Schulhof hinter der Knabenlatrine abgestellten Barren zu binden und mir das kommunistische oder das jüdische oder das faschistische Maul zu stopfen hatten, wußten sie. Wie sie den gezündeten Streichholz so an die Fußsohle halten mußten, daß die Haut nicht verbrannte, wußten sie. Wann der durchs Pissbecken gezogene und mit Urin getränkte Lappen wieder vom Gesicht zu nehmen oder der Kopf aus einem mit Wasser gefüllten Eimer zu ziehen war, wußten sie. Wie weit der Arm nach hinten zu verdrehen war, ohne daß der Knochen aus der Gelenkpfanne sprang, wie die Luft am Brustkorb so abzudrücken war, daß die Menschensau niedersank vor ihren Augen, ohne zu sterben, wieviel kurze, federnde und genau plazierte Schläge mit einem Stein auf den Knöchel möglich waren, ohne daß sich ein Bluterguß ergab, das alles wußten sie. Und daß Schröder, der an vier von sechs Tagen Pausenaufsicht hatte, nie hinter die Knabenlatrine kam, das freilich wußten sie auch. Deutsche hauen nicht ab. Ich konnte kein Deutscher mehr gewesen sein, als ich desertiert bin und blind vor Angst das Loch im Zaun gesucht habe wie das vom Schlachtbrett des Bauern gesprungene Tier. Aber ein Jude oder ein Kommunist oder ein Russe oder ein Nazi war ich auch nicht, bedauerlicherweise. Bedauerlicherweise gab es mich nicht, als ich Robert killte. Ich spreizte Daumen und Zeigefinger und ließ den Pfeil von der gespannten Sehne schnellen. Das gespitzte Schilfrohr schoß ins linke, geöffnete Auge. Robert stürzte mit einem Aufschrei, der echt war, ins Gras. Aber im Gestrüpp hinter der Schule hatte ich zeitweise Schutz zu erwarten, hier lag ich und hörte mich atmen, hier war mir meine Kindheit wie ein Schnitt in die Kehle des Huhnes erschienen. Es war eine Kindheit voller Verbote und voller Gelübde, den Verboten zu folgen; es war eine erfundene Kindheit; es war eine Kindheit ohne Kindheit, eine glückliche Kindheit ohne glückliche Kindheit, eine beschützte, schöne Kindheit in den Verstecken der schönen Landschaft; es war, daß die Geschichte ihr Spiel trieb mit ihrer Saat; es war, daß wir in das Schweigen, das ausging von der Welt väterlicherseits, denn das Schweigen, das ausging von der Welt mütterlicherseits, war mit dem Schweigen, das ausging von der Welt väterlicherseits, nicht zu vergleichen, nicht zu vergleichen und nicht zu verwechseln, versunken waren; es war, daß ein Mann wie Schröder niemals in die hinterste Ecke des Schulhofes kam, um zu sehen, was er wußte. Später starb er elend und durch eigenen Entschluß. Er tat auch mir leid. Am Tage seiner Beerdigung waren nur die Arbeiter des Friedhofs gekommen, weil Direktor Meier verfügt gehabt hatte: keine Gnade mit Deserteuren. Freitod ist eine Schande gewesen in meinem aufgeklärten, der Zukunft zugewandten Gebiet. Meine aufgeklärte, der Zukunft zugewandte Klasse hatte so auch keine Schweigeminute zu halten zur Stunde von Schröders Begräbnis. Wir gedachten seiner sitzend und rechnend, außerdem, sagte Meier, wäre er ein durch die Maschen juristischer Gerechtigkeit gegangener Nazi gewesen, die es ja auch noch gäbe in dieser unserer traditionsgemäß antifaschistischen Gegend. Aber schließlich entkomme keiner seiner ihm gebührenden Strafe, schloß Meier an, selbst die Natur, sagte er, richtet, im Namen des Volkes, und jeder wußte, daß der Direktor Schröders Geschwür damit meinte. Verbündet sei es gewesen mit den Interessen der Arbeiterklasse, ein in die Physis geschleuster Agent für den Frieden, der Schröder von innen her, vom Kopf her, zerstörte, auslöschte, kampfunfähig machte, killte. Schließlich war mein kleines, der Zukunft zugewandtes Gebiet umstellt gewesen von Feinden, hinter den Bahngleisen schon, hinter den Minenfeldern und Drahtverhauen. Feindliches Land war überall, und friedliches Land war ein gesichertes Rechteck im feindlichen Land. Wer das nicht wußte, gehörte nicht an diese Schule mit ihren sehr klaren Zielen und wurde, im Namen der Führer, in der Pause gekillt. Aufs Bahngleis sei er vor Schmerzen gesprungen, aber er sei nur, kommentierte es Meier, seiner Bestimmung gefolgt. Montags, am schrecklichsten anzusehen montags in den ersten Unterrichtsstunden, war Schröder grauer und faltiger als sonst, verfallener als sonst, sterbender. Und die Augen waren verquollen und gelb wie vertrocknete Quitten. Wer diese Augen herausgetrennt hätte aus dem Kopf dieses listigen Nazis, der wäre wie einer der Helden gewesen im polnischen Fortsetzungsfilm. Man flüsterte darüber, schrieb es auf kleine, fleckige Zettel, die zur Kugel geknittert durchs Schulzimmer flogen. Seid bereit, sagte Schröder, und wir sagten: Immer bereit, und quetschten uns in die Bänke und legten die Hände auf den Tisch, mit den Daumen nach unten und mit den gestreckten Fingern im rechten Winkel zum Körper. Auch die Führer saßen so, was mich enttäuschte, aber auch das Auge des Tieres lag wie hingezirkelt auf dem Hackholz im Winter und starrte kalt vor sich hin. Robert stand in Augenhöhe zu mir und fiel wie von selbst in den meinerseits nicht mehr zurückzuhaltenden Schuß. Vorher war er am Barren in einer Ecke des Schulhofs, die nicht mehr einzusehen war, gefesselt und wurde erzogen. Deutsche hauen nicht ab. Sie streuten ihm Pfeffer in die gewaltsam geöffneten Augen und schickten ihn blind zu seinem Vater. Meier pfiff, daß wir antreten mußten, der Größe nach wie gewohnt und mit den Händen an der Hosennaht. Er schrie und tobte und schlug mit dem Lineal in die Luft, das noch ein Pfeifton den Kleinsten am Ende der Reihe erreichte. Verkommene, unerzogene Subjekte seien wir sämtlich; an den Haaren würde er uns schleifen, würde seinem Sohn noch jemals etwas passieren; jeden einzelnen zerdrückte er wie einen Wurm zwischen Pflaster und Absatz, und die Eltern zöge er vor Gericht mit Schadensersatzansprüchen, daß sie ein Lebtag daran zahlten. Auf seine Weise war jeder erstarrt, eine Ewigkeit, die Meier schließlich mit gedämpfter Stimme beschloß: schließlich seien wir ein Kollektiv und verantwortlich füreinander an guten und an schlechten Tagen. An Robert aber habe keiner mehr etwas zu erziehen, da höre der Spaß und die Großzügigkeit zur Selbstkontrolle spätestens auf, denn ein Angriff auf Robert sei wie ein Angriff auf ihn, Direktor Meier, und ein Angriff auf ihn, Meier, sei wie ein Angriff auf die Partei, die ihn berief, und was ein Angriff auf die Partei sei und wie er gewertet würde, das habe man zu wissen oder bekäme es, wüßte man es aus nicht einsehbaren Gründen nicht, schon noch zu spüren. Ich hätte, dachte ich am folgenden Tag, als mir diese Szene in Erinnerung kam, den Schuß nicht abgeben dürfen, nicht auf Robert, auch wenn ich dafür einmal mehr über den Schulhof gejagt worden wäre. Als Meier in die Klasse trat, rechnete jeder damit, daß er etwas über Roberts Zustand sagen würde und warum er im Krankenhaus lag. Meier aber fuhr unverzüglich mit dem Unterricht fort, als gäbe es nichts zu erklären. Dafür beobachtete er mich; er sah auf mich herab, wann immer es eine Gelegenheit gab; er sah auf mich herab, wie ein Habicht auf seine Beute herabsieht, und mir schien, er hätte denselben jagenden Blick, den ich von den Pausen her kannte und den ich selbst gehabt haben muß, als ich Robert erlegte. Wann würde er mir von hinten die kalte Hand in den Nacken strecken, daß ich an seinem steifen Arm hing wie ein zu häutendes Karnickel und nur seine Stimme zu hören hätte, wie sie bebte und mir prophezeite, mich zu vernichten, mich zu zerdrücken, aus mir Streufutter zu machen, daß ich noch als Vogelschiß im Dachgiebel ende?, nein, er blitzte mich nur in Abständen an, als wollte er sagen, mein Blick wird dein Strick sein und mein Schweigen der Text, der dich richtet. So ging dieser Tag hin, und so gingen die folgenden Tage. Nichts von dem, das ich erwartete, geschah; ich war frei; ich war nicht frei; ich wußte nicht, was Meier wußte; bildete ich mir etwa nur ein, angeschaut zu werden wie jemand, über den das Urteil schon feststeht?, hatte Robert, mein Freund, vielleicht doch sein Versprechen gehalten und geschwiegen und gesagt, was wir zu sagen verabredet hatten?: kein Pfeil und kein Bogen, kein Schuß, ohne den ich einmal mehr ein Jude gewesen wäre, ein Nigger, ein Kommunist, ein Russe, ein Nazi. Nach einem kurzen, schockhaften Moment lief ich zu ihm und neigte mich über seinen am Boden zuckenden Körper. In der Pupille saß unübersehbar ein schwarzer, kräftiger Dorn, und aus dem Auge tränte eine gallertartige Flüssigkeit und lief über das Nasenbein hinunter zum Mund. Du wirst schweigen, Robert, wir alle werden schweigen, wir haben gelernt zu schweigen und Schweigen zu empfangen, Robert, und es wird Dunkelheit sein, aber es wird eine Dunkelheit sein, die wir kennen und in der wir uns bewegen wie andere sich bewegen bei Licht, sagte ich, es wird eine helle Dunkelheit sein, es wird eine gerechte Dunkelheit sein.

Steinzeit

Theaterstück und Prosa

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999
es 2151

152 Seiten, gebunden, DM 16,80
ISBN 3-518-12151-0