Kurt Drawert

Schriftsteller

Nacht. Fabriken. Hauser-Material und andere Prosa

„Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“ ist der erste umfangreiche Roman des vor allem als Lyriker und Essayisten bekanntgewordenen Autors. In Anverwandlung an den spektakulären Kriminalfall des Kaspar Hauser im 19. Jahrhundert nimmt Kurt Drawerts Roman das Motiv des verwahrlosten Findlings auf, um vom Untergang der DDR und dem Übergang in eine neue Zeit zu erzählen.
Dieser verunstaltete „Kaspar der Revolution“ erinnert sich mit schonungsloser Sprachgewalt, so ernst wie komisch, so realistisch wie surreal, an sein Leben als bestürzende Höllenfahrt durch die neun „Schuldbezirke“ der „Deutschen D. Republik“. Er ist ein Zeuge jener Nichtwelt unter der Erde, in der sich die Proletarier aller Länder einst im Sumpf vereinigt haben. In seinen Merk- und Beobachtungsheften notiert dieser „ostdeutsche Erdling“ die Zeit in der Zelle mit Holzpferd und Abfallkübel bis er Titelaufschreiber, Magazinläufer und Nachtwächter in der „Nationalen Bücheranstalt“ wird, ehe er nach dem Ende der Höhlenrepublik an die Grenze zum feindlichen Ausland nach oben gelangt. „Hier und da sahen wir noch Betonmauerreste, aus den Erdfugen gesprengte Stahlwände und Schachteinlässe, Zollbaracken und Kontrollpostentürme, aber alles nur noch in der eher albtraumhaften Verweisung darauf, einmal existiert zu haben, wie letzte, locker herumliegende Knochenrückstände, die an ein Schlachtfest erinnern.“ Seine phantasiereichen Erzählmonologe sind ein Antrag auf „Anwesenheitsberechtigung“ in einem sich selbst unselbstverständlichen Dasein: Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte. Kurt Drawerts Existenzbilder vom „Verbrechen am Seelenleben des Menschen“ sind unabweislicher denn je und eine Metapher auf unsere moderne innere Obdachlosigkeit. .

»Was Kurt Drawert zu erzählen weiß, gehört zum Riskantesten, Verstörendsten und – man muß es in einem Atemzug sagen – zum ästhetisch Herausragendsten, was unsere derzeitige Prosa zu bieten hat.«

Iris Denneler, Neue Zürcher Zeitung, 31.5.2001

Laufen. Traumtext.

Von höherem Standort betrachtet, mußten wir das Bild einer Herde ergeben, Schafe vielleicht oder Kühe, die zum Weideplatz trieben, wie wir am Startstreifen standen, ein sich nach hinten verjüngender Schwarm wilder Bienen, ganz sicher tierisch. Mutter im Hintergrund, klein und sehr blaß, im Knäuel aus erregten, menschlichen Körpern nur kurz zu erkennen, wie sie stolz mit dem Kopftuch winkte, winkte, lachte und weinte. Ich annähernd starr, eingekeilt, wie eine Fliege in Bernstein gegossen, unfrei, auch nur einen Schritt vor den anderen zu tun, herauszutreten, rückwärts oder vorwärts oder in die Hocke zu gehen, den Blick wie ein Wurm, der am Blatt eine Laus sucht, und auf die würdige, traurige Mutter gerichtet. Viel Schlechtes, das hier die Vergleiche hervorbringt, aber vom Ernst gleich dem Ernst meiner Mutter. Ihr weiter Weg über sandigen, gerissenen Boden, ich bei ihr oder sie bei mir, du wirst laufen, sagte sie, laufen und siegen, und in die Adern der Augen schoß Blut. Es war um nichts gegangen, es war um alles gegangen, ich ahnte, fühlte es, als mein Gesicht ihr auf die Brust sank mit ihrem bebenden, deutlich zu spürenden Herzen. Dieser Lauf würde ihr Leben entscheiden, es würde nie wieder sein wie vorher nach diesem Lauf, und es würde das Unglück vor diesem Lauf abgetrennt liegen wie Haut einer Schlange im Astwerk von Sträuchern, wenn ich als Erster durchs Ziel ging. Es ist dein Start, sagte sie, es ist mein Start, sagte ich, und die Sonne stieg in den Mittag gleich einer wachsenden Flamme und brannte nieder auf uns als auf kleine, leuchtende Steine. Nein, es war ihr Start gewesen, und ich war, für eine nächste Folge von Szenen, ihr Vater, nicht zu erklären für mich, nicht zu verstehen für sie. Aber ich bin immer nur mit Ameisen gelaufen, versuchte ich meiner plötzlich toll gewordenen, von schrecklichem Wahnsinn befallenen Mutter zu sagen, als ich vom Dorf für diesen Wettkampf auserwählt wurde und in ihrem Blick hohes Glück sah, es waren Babys, Mutter, die am Seestrand das Laufen erlernten, langsame, schleichende Wesen. Doch zu sehr war sie von Ehrgeiz besessen, verliebt in die Siegesvorstellung und blind für die Wahrheit, denn das Dorf, in dem wir lebten und in dem wir sterben würden aller Voraussicht nach und ohne Beachtung zu finden, war klein, klein wie ich in der Herde. Mit Schnecken bin ich gelaufen und mit alten, sehr kranken Frauen, Mutter, aber das Dorf in seiner Winzigkeit, verloren zwischen den Hügeln der Landschaft, fast nicht zu finden, und es hatte zur Bedingung gemacht, daß man ist wie im Ausschnitt des Bildes die winkende Mutter, blind. Nichts würde ich wissen im Dorf von den Bedingungen des Dorfes, nichts würde ich erfahren von der erzwungenen Blindheit, schon auf den Weg gebracht, ein gepachteter menschlicher Leib, geboren für einen Wettkampf im Zeichen des Stieres, auf dem Gepäckträger des Fahrrads als Frachtgut der Mutter, selbst deren Vater gewesen, sitzend und schlafend. Verwachsen mit einem weiblichen Rücken und schief wie die Tasche, die der Briefträger mitführt, der mittags an unserem Haus vorbei zum Postamt zurückfährt, saß ich mit verbundenen Augen und halb schon im Traum, ehe ich kraftlos in der Herde am Start stehen sollte. Wie stets wird der Postbote uns zugewunken haben, und sein Gruß wird der einzige Brief gewesen sein, den er brachte, während ich tief in Schlaf gesunken meiner Mutter endloses Glück sah. Ich träumte, ich war erwachsen und kräftig geworden und wäre ins Ziel gekommen vor sieben blutenden Pferden, noch ehe ich tatsächlich loslief, aber ich hätte nichts unternehmen können gegen die Blindheit des Dorfes, ich konnte nichts wissen davon. Du wirst sehen, sagte sie flüsternd, die besten Kleider wirst du haben und die teuersten Schuhe in dieser wütenden Herde, und ganz in Schwarz wirst du laufen, und der Stoff wird glänzen im Licht deines Sieges. Ich erinnerte mich, ich war auf der Straße geblieben oder am Wegrand oder saß auf einer Treppe, als sie den kleinen, erleuchteten Laden betrat und hastig ihr Geld zählte und auf den Tisch legte. Lange war sie nach dieser Kleidung auf der Suche gewesen, die sie mir aus der Ferne zur Anprobe hielt mit zitternden, eilig beschäftigten Händen, zu nervös, um mich hereinzuholen, zu glücklich, hinter den Scheiben, auf mich einredend wie auf ein taubstummes, elendes Geschöpf, und ich sah nur ihren Mund und verstand die Vokale, die er lange mit geöffneten Lippen festzuhalten schien. Sparsam werden wir leben, sagte sie trotzig, für diesen kostbaren, seltenen Stoff, sparsam, und dann wird es gehen. Doch der Anzug war entschieden zu groß, hing in der Schulter und schlurfte am Boden, doch das war Absicht oder auch Folge von Blindheit, doch ich werde, Mutter, verlieren in diesem zu großen Anzug, ich werde stürzen, Mutter, neben mir Herde, über mir Himmel, in mir ein fremdes, flehendes Begehren. Lange noch war von dem Geld die Rede gewesen, das sie ausgegeben hatte für diesen schönen, zu großen Anzug und das nun ersetzt werden müsse. Nach zwei Nächten kam die Frau wieder und schürzte die Lippen und sagte flüsternd, daß ich ihr geboren wurde, und legte schweigend das Geld auf den Tisch und ging in den See, der aber flach war in diesem Sommer. Ich jedoch wäre in ihm zu ertränken gewesen, so wie man junge, streunende Katzen ertränkt, aber es siegte die Liebe und der Gedanke an etwas, das größer sein mußte als ich und größer als unser Dorf und größer als der See unseres Dorfes. Ich schlug mein Sparschwein auf, legte die Pfennige ins Innere der Hand und reichte sie meiner Mutter, es gehörte alles zu meinem Reichtum, einen anderen hatte ich nicht. Sie sind deine Feinde, und sie werden dich schlachten, hat sie gesagt in gebrochenem Ton, wenn du als Letzter ins Ziel gehst und mit dem Anzug im Dreck dieser Welt liegst. Der Mann war einen anderen Weg zu diesem Wettkampf gegangen, und ich wußte, daß er stolz wie meine Mutter sein würde, aber zunächst war und blieb er Soldat und strafte mich mit Verachtung. Dennoch, ich war auserwählt worden, und auch wenn ich der einzige Junge im Dorf war und man sonst eine Schnecke hätte zum Start geben müssen oder einen Wurm oder das Baby vom Nachbarn, hörte ich täglich, daß ich auserwählt wurde, daß ich auserwählt wurde, stündlich, daß ich auserwählt wurde, daran dachte ich jetzt, währenddessen ich stürzte. Aber ich war bereits an die Spitze der Herde gelaufen und hatte ihnen den Eindruck des Siegens verschafft, einmal nur, für eine kurze Distanz, dieses Geschenk, denn die Herde blieb langsam am Anfang eines endlosen Weges und grausam in ihrer Kraft, und für die Minute oder Sekunde, die der Mann mit der Kamera festgehalten hat, werde ich nah an ihrem Glück gewesen sein. In diesem Moment wollte ich stürzen, Mutter, in diesem glücklichen Moment. Andernfalls und vielleicht zehn, vielleicht fünfzig Meter weiter wäre ich gefallen bar aller Kräfte und hätte abgeschlagen den Eindruck des Siegens verschenkt gehabt und den Rest deines Lebens verdorben. Aber vorher sollten die Beine mir brechen, ich wollte stürzen über die Steine im Augenblick des nahen Sieges, ich wollte als Sieger, nicht als Geschlagener fallen, über den noch die Herde hinwegtritt und den sie in Sand stampft, ruhig auf dem endlosen Weg in abverlangter Richtung, ich wollte ihr diesen Eindruck vermitteln. Ich hörte sie rufen, sah sie winken, die Blicke des Mannes blieben dunkel auf meinen Sturz gerichtet, aber sie verteidigte mich in ihren Gesten am Rande des Weges, das Tuch in der Hand und im Wind, gleich einer Fahne, die mir galt. Die andere Hand war zum Trichter gekrümmt und an die geöffneten Lippen gehalten, es war, als wäre meine Mutter nur dieser Mund gewesen in diesem ewigen Moment, der mich antreiben und zum Sieg bringen sollte mit seinem schreienden Gesang. Du bist mir gegeben worden, wollte er sagen, und mir schien, dieser Mund war zerrissen von seiner Sprache, die er mitteilen mußte, Silbe für Silbe, quälend, wie Geschwüre, die in ihm zu wachsen begannen, ein zerfressener, verzweifelter Mund, aus dem ich gekommen war mit einem Fluch, geboren im Hirn meiner Mutter und gefallen aus einer tiefen, nachtschwarzen Öffnung des Körpers. Nein, ich wußte nichts von dem Sinn eines Mundes, der mein Geburtsort sein sollte und hinabführt in das Geheimnis des andern, meine Mutter, jetzt sehr klein, sehr weit entfernt, außerhalb dieses Schauspiels, das mich festhielt und vielleicht in eine andere Geschichte gehört, nicht in diese, die eine Geschichte meiner Mutter gewesen ist. Die Labien und eine Höhle aus Fleisch im Inneren des Mundes und in der Mitte des Leibes hinter sprechenden Lippen, ich hatte keine Kenntnis darüber, denn das Dorf ließ mich blind sein, als auch schon der Kopf eines Raben ihr zwischen den weitgespreizten Schenkeln erschienen war mit dem Schwanz einer Ratte, wie sie aufschrie, wie das kurz und ewig zugleich war, wie ich loslief und die Herde anführte und schließlich hingestürzt war oder auch nicht. Der entsetzte Mann gegenüber, die irre flackernden Augen abgewandt und auf die sich spaltende Erde gerichtet, die sich gleich auftun mußte vor diesem elenden Anblick und eine Echse aussandte, mich zu holen, hineinzuziehen in einen Strom glühender Lava in einem uferlosen Fluß, dann in Sekret übergeht, in Sperma, Speichel und Blut, plötzlich erkaltet und fruchtbarer Boden geworden, aber das müsse man erst sehen, kann er gesagt haben, darauf sie, er wird siegen und als Erster ins Ziel gehn, dachte ich. Denn nur um diesen Lauf anzutreten, war ich gezeugt, im Akt einer Sklavin mit einer Alraune, zur Vereinigung im Rektum gekommen, die Sklavin, die eine Elfe ist mit dem Mund meiner Mutter, der Mann nun ersetzt durch einen von Räude zerfressenen Hund, der nur halb aus der Finsternis vortritt und sanft, mit seiner kalten, von Pilzen befallenen Zunge die Vulva der Sklavin beleckt, dann abtritt mit den Zentauren, die zugeschaut hatten und zur Befriedigung kamen am Stamm weißer Bäume, dann wieder der Mann vor den Augen der Mutter, lauf, mein geborener Sohn, mein geheiligter Vater. Nein, es war kein Schlaf mehr, kein Traum, diese Dornen und Scherben unter den Füßen, es war ein Teppich aus Glut, der ausgestreut wurde, um uns zu prüfen, und ich lief wie ein Schaf oder eine Kuh in der Herde, blind oder mit verbundenen Augen, ein Dreck, der zwischen das Bienenvolk fiel, und ich senkte den Kopf und schloß die Augen und dachte an Babys, die neben mir gerade das Laufen erlernen auf der Wiese am See, meine Mutter am Fenster, winkend und weinend, ich werde stürzen, Mutter, ich werde liegen auf dieser Erde wie ein verlorener, zertretener Brief, es ist Schicksal gewesen, Mutter, Unglück und Schicksal, gefallen auf dieser Erde oder ewig auf ihr unterwegs, ich wußte es nicht, ich erinnere mich nicht.

Nacht. Fabriken.
Hauser-Material und andere Prosa

Edition Korrespondenzen, Wien 2001

160 Seiten, gebunden
mit Fotografien von Ute Döring
EUR 20,00
ISBN 3-902113-02-2