Kurt Drawert
Schriftsteller
Der Band „Idylle, rückwärts“ versammelt das Beste aus Kurt Drawerts bisherigen Gedichtbänden sowie neue Gedichte. Nach seinem großen, von der Kritik hoch gelobten Roman „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“ (2008) legt Kurt Drawert, der sich vor allem als Lyriker und Essayist auch international einen Namen gemacht hat und bereits jetzt zum Kanon der deutschen Literatur gehört, eine Auswahl seiner Gedichte aus drei Jahrzehnten vor. Ein wesentliches Thema der Gedichte ist, die Verlorenheit in der Welt als Verlust von Sprache zu beschreiben. Dabei bezieht seine ebenso lakonische wie erzählende, melancholisch grundierte oder ironisch überzeichnete Lyrik immer auch einen Standort der Kritik und flüchtet sich nicht in das reine Spiel der Zeichen.
Zugleich schreibt Drawert die vielleicht schönsten Liebesgedichte der Gegenwartslyrik:
„Ich wollte noch sagen, ich liebe dich,/ glaube ich,/ sehr,// aber da war mir der Hörer/ schon aus den Händen und auf die Kacheln/ des Bodens gefallen.// Doch ich mochte es,/ dir in der Ferne näher zu sein/ als in der Nähe die Ferne zu spüren,// hob das Telefon auf und versuchte/ das alles,/ alles noch einmal.“
Drawerts Lyrik, in der das Private allgemein und das Allgemeine privat wird, vermag die Beschaffenheit und Befindlichkeit einer Gesellschaft aufzuspüren, die sich in einem radikalen Veränderungs- und Anpassungsprozess befindet, dessen Ausgang völlig offen ist.
»›Gedichte aus drei Jahrzehnten‹ verspricht der schöne Band und nennt beim ersten Gedicht in der Überschrift demonstrativ das genaue Datum von dessen Entstehung: ›Gedicht, als Brief angekommen, 15.7.1981‹. Es lautet: ›Der Antrag auf eine Reise / in das nichtsozialistische Ausland/ ging bei uns ein & wurde/ gründlich beraten. Leider/ ist es nicht möglich, Deinen Antrag/ zu realisieren, da alle Reisen/ vergeben sind. – Freundschaft.‹ Es gehört zu denen, die man nicht vergisst, wenn man ihnen einmal begegnet ist. Die Technik ist simpel: eine amtliche Mitteilung in Versform abteilen. In diesem Falle ist der Effekt entwaffnend. In einem Gespräch mit Andreas Herzog 1994 sagte der Autor: ›Was nützt einem ein Talent, wenn man keinen Stoff hat!‹ Kurt Drawert ist der Schriftsteller, Dichter, Essayist, der fast obsessiv den ›Stoff‹ herausfordert. Wählen konnte er ihn kaum, denn die politische Realität der DDR und die ›Katastrophen des Ostens‹ gehörten auch im Westen sozusagen zur Großwetterlage jener drei Jahrzehnte, die in seinem neuen Gedichtband poetisch dokumentiert werden. Dem ›Stoff‹ rückte er freilich auch als Essayist zu Leibe mit Texten, die umso wertvoller werden, je mehr wir uns vom Zeitalter ihrer Anlässe entfernen. Das Bedürfnis, sich über sein Schaffen theoretisch Rechenschaft abzulegen, dokumentiert sich auch in diesem Band, dessen drittes Kapitel den Essay ›Vom Lust zu verschwinden im Körper der Texte‹ von 2001 enthält. Was der Theoretiker Drawert für das Gedicht fordert, einen ›Mehrwert‹ und ein ›Textsubjekt‹, das haben auch seine Prosatexte – wie ›Laufen. Traumtext‹ – in ihrer stark stilisierten poetischen Sprache selbst da noch, wo sie anekdotisch, realistisch oder autobiographisch erzählen. Die Gedichte bilden drei Kapitel, nach Jahrzehnten geordnet: ›In den Fabriken (die 80er Jahre)‹, ›Der letzte Hund der Geschichte (die 90er Jahre)‹, ›Das Jahr 2000 findet statt/ (offline)‹. Öfter gibt die Natur den abstoßenden Hintergrund, öfter wischt das unlyrische Ich wieder ab, was es vor uns auf die Tafel gemalt hat. Aber immer bringt der Dichter sich selber mit, in die Natur, in die Geschichte, an fremde Orte. Als letztes Kapitel folgen zwei Dutzend neue Gedichte und ein kleiner Zyklus von zehn Gedichten, unter der Überschrift ›Jeder Tag kostet Geld/ (Matrix Amerika)‹«. (…)
Aus: Hans-Herbert Räkel: »Was war das für ein Land, dem wir entkamen? Kurt Drawerts Gedichte aus drei Jahrzehnten (…)«,
Süddeutsche Zeitung, 7./8. Januar 2012 – PDF-Download
»Die postmodernen Theorien über die unhintergehbare Verzahnung von Sprache und Macht scheinen für jene deutsche Autorinnen und Autoren noch immer eine ungebrochene Anziehungskraft zu besitzen, die die Sprachregelungen der ehemaligen DDR an ihrem eigenen Leib erfahren mussten. So beschäftigt sich auch der 1956 in Brandenburg geborene Kurt Drawert, der den Fall der Mauer wie kaum ein Dichter lakonisch im Wechsel von einer ›verwundenden‹ zu einer ›verwaltenden‹ Ordnung verzeichnet hat, mit den körperlichen Auswirkungen des öffentlichen Diskurses – und mit der Frage, ob jenseits davon allenfalls in der Dichtung Raum für ein anderes Sprechen (oder für das Sprechen eines Anderen) existiert. Drawert stellt der funktionsorientierten, das sprechende Subjekt auch immer unbewusst disziplinierenden und so dem Verstummen entgegen treibenden Alltagssprache eine intuitive Form der Kommunikation zur Seite, die sich an die Ränder des Schweigens heran tastet. Ein Gedicht beginne nicht dort, ›wo tiefer Nebel über Kuhwiesen wabert‹, hält der Dichter dabei in seinem poetologischen Essay ›Die Lust zu verschwinden im Körper der Texte‹ mit der ihm eigenen, nur von einem haarfeinen Hauch von Ironie durchzogenen Akkuratesse fest. Das Wesen von Gedichten sei es vielmehr, so der Autor, einen Überschuss an Sinn zu erzeugen, was jedoch nur dann gelänge, wenn die Texte einen Defekt aufweisen – wenn sie ›das Organisationsniveau jener Gegenstände‹ über- oder unterschreiten, die sie durch die Sprache in sich aufnehmen wollen. Ein Gedicht wolle schließlich zeigen, ›dass das Bekannte etwas Anderes ist‹. In dem bei C. H. Beck erschienenen Band ›Idylle, rückwärts‹, in dem Drawert nun eine Auswahl von Gedichten aus drei Jahrzehnten – seine Best-Of-Sammlung – vorlegt, die um den neuen Zyklus ›Matrix America‹ ergänzt wurde, kristallisiert sich dieser andere Blick auf das Vertraute aus immer neuen Perspektiven zu nüchternen und doch intensiven Einsichten in die Existenz in zwei verschiedene Formen des falschen Lebens.«
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 1. September 2011
»Das Aufbegehren, der Widerstand, der Kampf heißen die Motive, die Drawert zum Schreiben zwingen. Er lehnt sich auf gegen Autoritäten und bringt dagegen seine Sprache in Stellung. Sie legt es darauf an zu verletzen und sie stellt die eigenen Verletzungen aus. Das Individuum rebelliert mit Worten, die nur ihm gehören und für die der Moloch Gesellschaft keine Verwendung findet. Nichts Reglementiertes findet sich in seinen Gedichten, das macht sie so unbedingt notwendig. (…) Heute gehört Drawert zu den anerkannten Größen des zeitgenössischen Lyrikbetriebes, der sich überdies die Neugier bewahrt hat für alles, was an junger Lyrik nachwächst.«
Aus: Anton Thuswaldner, oe1.ORF.at, 14. August 2011
»Wenn dieser Dichter an Deutschland denkt, dessen Geschichte der Spaltung sich buchstäblich in seinen Körper eingeschrieben hat, dann ist er nach dreißig Jahren des Schreibens noch immer um den Schlaf gebracht. (…) Was bleibt, nach einem halben Leben in einem Land, das die existenzielle Heimatlosigkeit nie aufheben konnte, ist ein ätzender Sarkasmus. Es klingt wie ein bitterer Schlussakkord, wenn Drawert in einem New York-Zyklus aus dem Jahr 2010 noch einmal seine Biografie resümiert. ›Mein Land‹, heißt es da, ›mein Land war eine Rittmeisterpeitsche, / ein vergifteter Brunnen, Abfall vom Hund. / Ich werde es nicht mehr erwähnen, / ostdeutsch verwundet und westdeutsch / verwaltet, ich habe zu sprechen begonnen / und war sofort allein.‹ Und dieser Vers lässt sich fast als Daseinsformel des Autors Kurt Drawert lesen: ›Ich habe zu sprechen begonnen und war sofort allein.‹ (…) In ihrem innersten Kern handeln fast alle Gedichte Kurt Drawerts von diesen Erfahrungen der elementaren inneren Spaltung und Trennung, vom Verlust des Sprachvertrauens und dem Ausgesetztsein eines Sprechenden, der seine Identität durch die gewaltsam verfügte Sprachordnung bedroht sieht. (…) Die Orientierung des jungen Kurt Drawert an westdeutschen Autoren hat denn auch die frühen DDR-Leser irritiert. (…) Denn mit Drawerts kühlen Lakonismen, seinen akribischen Erkundungen eines Lebens, das sich aufzulösen beginnt, hatte man in der DDR der achtziger Jahre Schwierigkeiten. Hier sprach ein Autor ganz beharrlich vom ›Privateigentum an Empfindung‹ – und das war nicht mehr unterzubringen in einer Poetik, die auf eine unerschütterbare Ordnung der Kollektivität aus war. (…) Im Gedicht ›Tagebuch‹ blitzt noch ein weiteres Zentralmotiv des Dichters Kurt Drawert auf, das er nicht nur in lakonischen Gesten, sondern in ganz liedhaften Formen variationsreich durchgespielt hat. Es ist seine Passion für das Liebesgedicht, die große Kunstfertigkeit, die Dinge des Herzens zu sagen, ohne sich süßlicher Klischees zu bedienen. (…) Wer nun also die lyrischen Sageweisen aus drei Jahrzehnten genau studiert, die Kurt Drawert im Band ›Idylle, rückwärts‹ zusammengetragen hat, der bekommt auch einen starken Eindruck von der stilistischen Vielseitigkeit, die diesen Autor auszeichnet. (…) Und ganz am Ende des Bandes steht dann das jüngste Werk Kurt Drawerts, ein weit ausgreifender rhapsodischer Gesang über Amerika, gewürzt freilich mit viel Bitterkeit und Sarkasmus. Das Gedicht ›Matrix Amerika‹ liest sich wie das Manifest einer Endzeit, in der die falschen Versprechungen des Kapitalismus ebenso in sich zusammenbrechen wie die Illusionen des Künstlers. ›Matrix Amerika‹ – das ist ein Resümee eines vollkommen desillusionierten Dichters, der weder in der Alten, noch in der Neuen Welt eine Heimat gefunden hat.«
Deutschlandfunk: »Der Büchermarkt«, Buch der Woche, 3. Juli 2011, von Michael Braun
»Seit seinem ersten Gedichtband 1987 gehört Kurt Drawert zu den wichtigsten deutschen Lyrikern. Neben Lutz Seiler ist er wohl der einzige, bei dem essayistisches Erzählen und Lyrik wie selbstverständlich ineinander übergehen können. (…) Drawert trennt nicht zwischen privat und politisch; zu tief haben sich DDR-Dreck eingefressen und westdeutsche Reglementierung breitgemacht: ‚Ich werde es nicht mehr erwähnen,/ ostdeutsch verwundet und westdeutsch verwaltet.’ Der neue Band enthält einige der schönsten Liebesgedichte. In den sprachlich genauen Texten wird nichts vorgemacht; die meisterlich gehandhabten poetischen Formen dienen der Wahrheit und Dichtung.«
Aus: Drawerts Gedichte, Mannheimer Morgen, 8. Juni 2011
(…) »Endlich sind wieder neue Gedichte von ihm zu lesen, und der in New York entstandene Zyklus »Matrix America« zeigt beispielhaft Drawerts außerordentlichen Rang als Lyriker. Wenn er Romane oder Theaterstücke schreibt, ja, auch Essays, ist die Präzission seiner Sprache am Gedicht geschult, und seine sehr konzentrierten Prosatexte widersetzen sich der flüchtigen Aufnahme, indem sie die Aufmerksamkeit vom Leser gleichsam einfordern. Im Gedicht aber ist Drawert ganz bei sich, es ist der Kern und die Keimzelle seines Schreibens, und ohne dass es angestrengt einem sprachlichen Originalitätsdruck folgen müsste, entwickelt es einen unverwechselbar eigenen Ton. Wie früh er schon ausgeprägt war, zeigt diese schöne Auswahl, die drei Jahrzehnte zurückreicht. (…) Man sieht gleichsam dabei zu, wie sich aus den Einzelteilen der Gedichte ein Lebenswerk formt, das mehr ist als die Summe seiner Teile.« (…)Aus: »Weit entfernt und ganz bei sich« von Johannes Breckner, Darmstädter Echo, 7. Juni 2011
(…) »Kurt Drawert, 1956 in Hennigsdorf (Brandenburg) geboren, überwinterte in der DDR und lebt heute in Darmstadt. Man sagt das so: Er überwinterte. Diesem wirklich wirklich guten Gedicht merkt man es nicht an. Dass er ein wirklicher Dichter ist, merkt man seinen Romanen und Gedichten an, die einige Male aus bestem Grund ausgezeichnet wurden.«
mehr (pdf-Datei, 64 KB)Aus: »Tagebuch. – Frankfurter Anthologie« von Ulrich Greiner, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Mai 2011
»Nur wer im Gedicht seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Ton gefunden hat, ist als Lyriker des Erinnerns wert. (…) Der diese (Un-) möglichkeit so bestechend meistert, das ist Kurt Drawert. (…) Der tief tönende Grundakkord dieser wundersamen Vers-Welt nämlich ist Vergeblichkeit. Über 260 Seiten nimmt ein bedeutender Künstler Abschied – von sich selber: »…dann werde ich abscheiden,/ Im Schnee stehen und mir nachwinken, bis der Arm erfriert,/ Blau das Gesicht von des Scheiterns schneidendem Wind.« Schon in diesen wenigen Zeilen erweist sich Kurt Drawerts Perfektion (…) Kurt Drawert aber appelliert nicht, er konstatiert. (…) Gewiss, das kennen wir aus seiner so präzisen wie gnadenlosen Prosa (…) Doch hier, in den Gedichten, benutzt er eine verkehrt herum gehaltene Wünschelrute; sie schlägt aus – dort, wo Leben eigentlich blühen sollte, aber zu Schotter geworden ist (…) Nie und nirgendwo in seinen Gedichten schmückt dieser Lyriker sich mit einer Gebärde. (…) Kurt Drawert ist Versuchung, seine Lyrik der Schrei eines Verlorenen: wüst, die Leere ausbuchstabierend, doch nie füllend. (…) Ratlos macht sie uns jedoch nicht; denn siehe: das Grässliche wird zur Schönheit – durch das Wunder seiner Sprache. Sie ist so klar wie Glas und auch so hart.«
mehr (pdf-Datei, 62 KB)Aus: »Die Dinge verschwinden. – Die Gedichte Kurt Drawerts erscheinen in einer ersten Gesamtausgabe« von Fritz J. Raddatz, Die Welt, 12.03.2011
Vom Ende der Poesie (I)
Jedes Gedicht, sagte Herr Müller
von der HypoVereinsbank,
ist ein Schuldschein,
und Sie schreiben zuviel.
Ich also hängte diesen Teil
meines Lebens
wie an einen Haken für Schweine.
Im Riesenrad
Wenn die Achse in der Bewegung des Rades
die Gondel des aufsteigenden
und die Gondel des absteigenden Teils
in gerader Linie verbindet,
gibt es die neutrale Sekunde,
in der die einen und die anderen
in Augenhöhe sind.
Dann tritt das Unvermeidliche ein –
Hochmut ist wieder Hochmut, und Fall wieder Fall.
Fünf Zeilen
Ich möchte es noch einmal sein,
verliebt in den Schein der Liebe.
Wie die Barke, wenn sie ins Weltmeer sticht,
unwissend stolz. Und Herz ist Herz,
und Stein bleibt Stein, ehe das Segel bricht.
Matrix Amerika
New York against the World
Graffiti, Subway St. at Washington Square
I
(Good luck am Natursee. Rückblende.)
Nein, ich schreibe nicht über New York
in New York, aber so ein Leben
als Schaufensterpuppe in der 5th Avenue,
die mit den Augen klimpert wie Dolly,
eine Freundin für jeden, ist auch nicht
sehr anders, als in Halle an der Saale
Grütze zu kochen für brutto drei-
fünfundzwanzig, zum Beispiel. Überall
sind alle zuviel, nur weiß das noch keiner,
und so ziehen sie los, die einen auf ihre
Werbefläche von John-Galliano-Store
früh um halb fünf, und die anderen,
Empfänger von Hartz oder Holz oder
gar nichts, was den klassischen Mehrwert
vorantreibt, mit Kohle und Grillbesteck
an den Natursee, um sich fit zu halten
für einen nächsten sportlichen Abgang.
Bleibt immerhin, die Reste der Biografie
von gestern heute auf den Rost zu schmeißen
und zu warten, bis sie eßbar werden.
Ich dachte ja auch, mir brechen die Knochen,
und es war nur der Wind, der hart
in morsche Zweige fuhr. Sonst nichts Neues.
Sonst nur ein dumpfes In-der-Matte-Lungern
und auf seine Einberufung bei Edeka1 warten.
Gelegentlich geht einer zum Zahnarzt,
weil das Gold in seinem Kiefer verrutscht ist,
oder eine Gonorrhoe ist in Umlauf, die man sich
mitgebracht hat aus den Ferien in …, im …
und jetzt an seine Freunde verschenkt.
Wir sagen es klar und mit Schwesterwelle2 :
Verhältnisse wie im alten Rom, so dekadent
im urogenitalen Bereich. Wer kann,
der kann, ein Börsenfick in der Wall Street
hat schlimmere Folgen. Noch einmal
zwei Lehmanbrüder, und wir machen
aus Pflugscharen Schwerter – (Karl Marx,
»Die Bergpredigt«, fast in den Knast gekommen,
damals, deswegen), und dann ist Ende
Gelände, und nicht nur hier, am Sozialstrand,
so online wie möglich. – Das alles eben
über Handy geordert, wie sich Google Maps
gerade heranschleicht und in die schwarzen
Konten der Hartzer leuchtet. Gefährlich,
gefährlich, gelinde gesagt. Arm und Reich
so eng beieinander wie heiße Kröten
zur Paarung, das geht, Genossen, nicht gut.
Deshalb: jedem sein Black Berry!,
damit er im Notfall Rente auch über Land
beziehen kann und in die luftige, lausige
Natur, von der nur ein Briefmarkensammler
die Vorstellung hat, daß sie Spaß macht,
so kurz vor Sibirien, wenn die Sonne
schon blaß geworden ist wie das verwaschene
Sparkassenlogo auf einem T-Shirt,
das in feuchten Ästen zum Auslüften
abhängt, und auch die Hunde nicht mehr
recht wollen, und der Lurch, und der Laich,
und einfach alles nur noch lustlos in Falten liegt
wie eine Fahne in der Abstellkammer.
Von hier in die große, weite Welt (Zitat
meiner Oma) war es nur ein Mausklick
entfernt, und schon saß ich in einer brand-
neuen Ökomaschine, die mit Ziegenmilch flog,
bis eine Stimme mich weckte: – »Entfernung
ist nur eine Einbildung.« – »Eine Einbildung
ist aber alles, was wir noch haben.« Erste
Bewegung: Signalstärke testen; (und dann erst
der Schock, wieviel schon wieder herumliegt
auf dem virtuellen Schreibtisch.) Vielleicht
doch nicht so schlecht, sich selbst abzuschaffen
als zappelndes Subjekt in den Hedgefonds
der andern, und dann als Modepuppe irgendwo
wieder aufzusteigen. »How long are you
staying here?«, aber keine Antwort
in verständlicher Sprache. Also doch nur
Plastik vom Hausherrn, oder kurz
vor der Beförderung zum Gruppensprecher
und deshalb nicht mehr so risikofreudig.
Nächste Strophe, gleicher Gedanke:
In Coney Island gibt es eine Arena
zum Ausverkauf der Würde, hier unsere süßen
Kleinen mit ihren scharfen Farbschußpistolen,
und dort, zwischen Steinen und Müll,
die um ihr Scheinleben wimmernden
Abschußfiguren, shoot the freaks –
wer immer sich, um für ein Freibier zu sterben,
in Schußlinie stellt. Bei uns, darf ich das sagen
und stolz sein?, ist jeder sein eigener Freak,
hier wird mit Gesetzen geschossen, mit Liebe
zum Land und Treue zu Hoffmann von Fallersleben.
Das wollen wir doch bitte
einmal auch nicht vergessen,
so als Fremde im Inland.
II
(Die Mode. Der Schlachthof.)
Der High Line Park im Meatpacking District
und sein herrlicher Ausblick auf das Blut
geschlachteter Tiere, das Bilder an die Wände
zeichnet und als action painting
versteigert in der dritten Runde wird.
Ein verrosteter Haken, an dem gestern noch
die Rinder hingen, heute ein Design
für die gerechten Vielverdiener mit Liebe zum,
wie sag ich’s, ohne abzustürzen, un-
verfälschten Leben. Dann noch ein Foto
fürs Hochglanzgeschäft mit dem Elend,
und die Gegend ist ausgekocht
wie ein Hundekopf in Chinatown.
Armut ist sexy, solange man Geld hat.
Der Charme des Verfalls, die Königin
in Weiß, ihr Zwerg daneben, die Künstler
im Hintergrund. Umzüge, Neugründungen,
gestern West Village und heute SoHo,
gestern noch Post- und heute schon Parkbank,
und so gehen sie hin, datenfluß-
abwärts. Gib Zeichen, wir weichen!
Ich bin Schriftsteller geworden
mit der Steuernummer 007-813-00865
und leider keine Walther P 22.
Alles dauert dann länger, sofern wir
das überhaupt noch erleben, daß ein Satz
die Welt bewegt um eine halbe
Empfehlung. Meine Turnschuhe
habe ich ausgezogen, keine Lust mehr
auf einen Rekord. Die Schweine
sind immer schon am Ziel,
deshalb lohnen sich die meisten Wege
so wenig. Aber vielleicht bin auch ich
schon geklont und zu einer Marke
geworden für faules Gemüse,
einer neuen Knäckebrotsorte, einer
Fernsehserie für digitale Analphabeten.
Ich sitze bei einem Chinesen am Broadway
und sehe mir auf einer blankgeputzten
Kachelwand zu, wie ich lebe.
Von einem Monitor flimmert Reklame,
die Flügeltür schlägt auf, und ein Straßen-
junge verteilt Reklame, auf seinem T-Shirt:
Reklame, ich zeige ihm ein paar Faltblätter,
die in meiner Jacke stecken, Reklame,
die er betrachtet wie ein Mißverständnis,
das ich ihm augenblicklich schenke.
Meine Sorge gilt meinem Körper,
dort, wo er das Gegenteil denkt und
»nein, danke!« sagt. Der Rest
wird zur Tageszeitung, Reklame,
»Your Body is advertising brochure only«,
mein Name ist Bartleby, und ich fordere
mich auf, jetzt zu gehen. Mein Blick
ist meine Schuld, und darum bin ich,
seit exakt zwanzig Jahren, in Therapie.
Schlafen, schlafen und nochmals schlafen.3
Trinken, trinken und nochmals trinken.4
Über fünfzig gibt es eigentlich nur noch
den Notstand, aber das ist schon
Privatgeschäft, das an manchen Tagen
immerhin gut funktioniert. Wenn ich
etwas sehe, ist es privat, denke, fühle,
privat, ich werde, ab morgen, weitersprechen,
ich werde, ab morgen, weiterglauben,
daß ich, wenn ich, ab morgen, weiterspreche,
die Welt, ab morgen, weiterhin verändern werde,
weil ich, ab morgen, weiterhin glauben werde,
daß die Welt, ab morgen, weiterhin verändert,
was in der Welt, ab morgen, weiterhin ist.
IV
(Zwischentext. Liedhaft.)
Wer nicht läuft, fällt ins Getriebe,
und wer ins Getriebe fällt, ist tot.
Und während ich das schnell notiere,
fährt ein Fahrzeug in der Not,
mich zu verschonen, an die Wand.
Soviel zur Veränderung der Welt
durch Poesie. Hier noch mit Geld
zu regeln und praktischem Verstand.
Doch ebenso ist einzusehen:
wenn jeder aus dem Kreislauf fällt,
weil irgendwo ein Köter bellt,
und andernfalls sich nur bewegt,
was die Bewegung selbst erregt,
ist gut, wir bleiben einfach stehen.
1 Name geändert
2 Name nicht geändert
3 Frei nach Wladimir Iljitsch Lenin
4 Frei nach Arno Schmidt
»Idylle, rückwärts. – Gedichte aus drei Jahrzehnten«
Verlag C. H. Beck, München 2011
264 Seiten, EUR 19,95
ISBN 978-3-406-61263-3
Auszeichnung zum Buch des Monats der »Darmstädter Jury« für Juni 2011.