Kurt Drawert

Schriftsteller

Zweite Inventur

„Wer Drawerts Gedichte liest, muß sie befragen. Drawert macht dem Leser nichts mundgerecht, liefert nicht wiederverwendungsfähige Zitate noch Verse, die wie Öl über die Zunge gehen. Seine Gedichte verkünden keine Programme und bieten keine Lebenshilfen frei Haus.
Wer sich mit diesem Dichter treffen will, muß seine eigenen Probleme mitbringen und mit der Kenntnis von Realität und Leben seine Texte lesen. Denn um Texte im Sinne von miteinander verspannten und mit- und gegeneinander arbeitenden Wörtern und Sätzen handelt es sich. Gedichte, wie die von Drawert, sind nicht Abbilder von Gegenständen, sondern selbst Gegenstände. Ihre Komplexität verwahrt sie gegen ihre Konsumierbarkeit: Lektüre wird nicht zu einem Erlebnis, das sich summa summarum unter den Strich bringen läßt.“
Heinz Czechowski

Zweite Inventur

für Günter Eich

Ein Tisch.
Ein Stuhl.
Ein Karton für altes Papier, Abfälle,
leere Zigarettenschachteln, Briefe,
die keiner Antwort bedürfen.

3 Meter entfernt: Ein Schrank.
Ein Tisch.
Ein Stuhl.
Ein Karton
für Notizen, Belege, Rechnungen.
Das Bett.

2 Meter entfernt: Ein Schrank.
Ein Tisch.
Zwei Sessel.
Eine Ablage
für Manuskripte.

Auf dem Fensterbrett stehen Bücher,
Bücher stehen auf der Erde,
auf den Tischen 1 und 2.
Unter den Tischen Körbe
mit schmutziger Wäsche.
Zwischen den Körben, im Koffer,
der auf dem Fußboden steht,
wo gebrauchte Fahrscheine liegen,
zerknüllte Seiten, begonnene und verlorene
Sätze, die Schreibmaschine.

Das ist mein Zimmer.

Allein ich weiß, wo etwas
zu finden ist.
Sobald ich mich bewege,
überzeugend zwischen den Dingen,
die ich kenne, bin ich überzeugt,
mich zu bewegen.

Das ist mein Vorteil.

Mein Vorteil ist die Anwesenheit
von Gegenständen, die mir vertraut sind,
die mir vertraut sind wie die Erfahrung,
sie wieder verlieren zu können,

endgültiger.

 

Zwischenzeitlich

I

Ich bin, was ich in meiner Sprache bin,
Was ich in den Worten bin, die ich mir
über mich mache.
Was ich in den Worten bin ist das,
Was ich in den Worten der anderen war,
Weil ich bin, was ich für andere bin,
und
Weil ich für andere bin, was ich nicht
> bin.
Also ich bin, was ich nicht bin und bin nicht,
Was ich bin.

II

Wenn meine Sprache, meine Gedanken, einer
Verfehlung gleich, abnabeln vom Sinn,
Wortkrank sich verlieren, versanden,
Wenn mein Raum, also das Rechteck
Schulter Schulter, Fuß Fuß, einem, versehentlich,
falschen
Ausdruck erliegt, dann werde ich abscheiden,
Im Schnee stehen und mir nachwinken, bis der Arm
erfriert,
Blau das Gesicht von des Scheiterns schneidendem
Wind.

 

Tagebuch

Die Wolken treiben dahin
an diesem Morgen, wie die
Worte in meinem Herzen,

bis sie verschwinden, wie die
Wolken in diesen Morgen,
der Morgen in diesen Tag,

und der Tag in den Sätzen:
Das war eine Wolke oder
das war ein Morgen

verschwunden sein wird.
Ich denke, daß alles endet,
indem es beginnt,

und es ist Montag, und die Dinge
verschwinden, und ich gehe
aus dem Haus, über die

Straße, über den Platz, deine
Bemerkung erinnernd: „Unsere Liebe
ist wirklich“, wie dieser Morgen,

diese Wolken, dieser Tag,
wie die Worte in meinem Herzen
wirklich wirklich

gewesen sein werden.

Zweite Inventur

Gedichte

Aufbau Verlag, Berlin und Weimar 1987

206 Seiten, gebunden
ISBN 3-351-00637-3