Kurt Drawert
Schriftsteller
»Er beherrscht die unterschiedlichsten lyrischen Sprechweisen, vom streng geformten bis zum freien, prosanahen Gedicht. Ohne jede Weinerlichkeit, intellektuell hellwach, indes nie hochmütig, in haarscharf geschnittenen Bildern der Erinnerung und Reflexionen über die unmittelbare Gegenwart, zuweilen begleitet von herben, melancholischen Untertönen, entsteht von Text zu Text ein zerrissener ›Wirtschaftswunderkörper‹ namens Deutschland. Politische Gedichte von seltener Sensibilität.«
Hajo Steinert im FOCUS am 20.5.1996
»Ein Nachzügler der verjagten Schriftsteller ist Kurt Drawert. 1956 in Hennigsdorf (Brandenburg) geboren, verbringt er seine Kindheit im eingemauerten Ost-Berlin, übersiedelt 1967 nach Dresden, geht diversen Tätigkeiten nach, bis zu den literarischen Anfängen, die ihm zwischen 1982 und 1985 das Studium am ›Institut für Literatur‹ in Leipzig ermöglichen. Dürre, unpersönliche Daten, aus denen Drawerts Entwicklung nicht hervorgeht – eine des sich Freischreibens von Ideologie, von Kompromiß und Rücksichtnahme. Trotz der Wiedervereinigung und der Hoffnung, daß sich nun alles, alles wandeln müsse, bleibt das Empfinden der Fremdheit unüberwindlich. Das Trauma der DDR sitzt tief. (…) ›Im Nebel ist alles verschwunden …‹ Da gibt es keine Wehmut, keine Träne; die eigene Vergangenheit wie ihre realen Stätten sind ausgelöscht. Keine Wut, keine Larmoyanz kennzeichnen das Resümee. Die nüchterne Wertung aus einem immerhin fast vierzigjährigen Leben in der DDR heißt: ›Wir hatten kein brauchbares Land.‹ Ein schlichteres und schlimmeres Urteil kann kaum gefällt werden.«
Aus: »Frankfurter Anthologie. Kein brauchbares Land« von Günter Kunert, Frankfurter Allgemeine Zeitung am 8./9.6.1996
»Kurt Drawert ist zum eminent zeitkritischen Autor geworden, souverän verfügend über reichhaltige poetische Instrumentierungen. Selten dürfte man derart sensible liedhafte Anverwandlungen etwa an Heinesche Traditionen lesen, die dennoch ganz auf das Zeit- und Seelenleben unserer Gegenwart gestimmt sind. Harte, pochend rhythmisierte Versläufe als Mittel der reflexiven Desillusionierung, bei Drawert wird jener ›verwaltete Fortschritt‹ einer stilistisch federnden und klug aufgereizten Wörterwelt ausgesetzt, die der Autor bescheiden seine ›sublime Veranlagung zur Übertreibung‹ nennt. Weil es um die sinnverlorenen ›Horizonte des Wissens‹ geht in dieser virtuosen Lyrik, ist das allernächste Beobachtungsobjekt gerade entfernt genug; die hinfällige Körperlichkeit des Dichter-Ichs und seine so beengte wie unermeßliche Lebensrealität. Ihnen gilt dieser ›poetische Aufschwung‹, der bloße ›Gebärdensprache‹ nicht sein darf, sondern für eine Weile alles ›verwahrloste Schrifttum‹ vergessen machen möchte. Was ist von bedeutender Literatur Schöneres zu erwarten? Dieser Kurt Drawert: est poeta!«
Aus: »Die finsteren Senken der Augenblicke. Kurt Drawerts neuer Lyrikband Wo es war« von Harro Zimmermann, Frankfurter Rundschau am 27.3.1996
»Überhaupt ist der Formenreichtum des Bandes erstaunlich, bewundernswert die Fähigkeit des Autors, das Vielfältige zum Eigenen zu machen. Es gibt unter den Gedichten ironisiert Liedhaftes, Anklänge an Heine; es gibt den trockenen Ton, die lakonische Sprache, die an die Gedichte des Bandes ›Privateigentum‹ erinnert; es gibt fragmentarisch wirkende Notate, und nicht selten hört man semantische Anklänge an lyrische Traditionen der klassisch-romantischen Zeit. Dies nicht als ein Pastiche, das alte Sprachformen variiert oder durchscheinen läßt; nicht als Zitat und nicht als Formspiel. Der Autor hat eine neue Souveränität im Umgang mit der Sprachtradition erreicht: er braucht sie und verändert sie, um so, in Anklang und Abgrenzung, die eigene Sprache zu gewinnen.«
Aus: »Der Freispruch des Sisyphos. Formenreich: Kurt Drawerts Gedichtband Wo es war« von Elsbeth Pulver, Neue Zürcher Zeitung am 23.7.1996
»Der vierzigjährige Kurt Drawert ist eine der bedeutenden Stimmen beider Deutschland. Das will sagen: der in der DDR groß gewordene Lyriker hat seine historische Erfahrung mit dem verwachsenen Sozialismus, die auch eine moralische Zerstörung war, nicht verbunkert. Das Wort hat zwei Bedeutungen – der Ton seiner Gedichte, voll lakonischer Trauer, voll trotzigem Selbstbewußtsein anklingend an Gottfried Benns berühmtes ›Und dennoch die Schwarte halten‹, hallt nicht dumpf hinter dem Beton einer DDR-Nostalgie hervor; und zugleich sieht sich der Autor nicht als Armierungs-Soldat einer neuen Ost-West-Frontlinie. Er wagt es, das verletzte Humanum auszuleuchten: zwischen dem grellen Flittertand des westlichen Konsumismus und der diabolisch lodernden Fackel des untergegangenen östlichen Kommunismus. Drawerts Gedichte (…) orchestrieren keinen Untergangsveitstanz, doch auch kein rosiges Ballett einer Zukunftsverheißung. Sie sind weder Epitaph noch Vision. Sie sind strenge Vermessung zerstörter Lebensmöglichkeiten, dabei von eindringlichster poetischer Leuchtkraft, durchaus erinnernd an die Wortwunder des aus Rußland vertriebenen Dichters Brodsky.«
Fritz J. Raddatz in »Nouvel Observateur«, Paris
Heimatgedicht, C-Dur
Jeden Tag eine Nachricht
von Kriegen, ist auch eine Art
geregeltes Leben. Uns trifft das nicht.
Wir haben Glück und kommen irgendwie
davon. Hin und wieder ein Stoß
in die Seite, ein Fleck aufs Jackett –
und das war es dann schon.
Uns hat hoch oben jemand das Schicksal
auf Daunen gelegt, und ehrlich gesagt:
wir sind gesandt und herabgekommen
in besonderem Auftrag. Wir sind gottgewollt
gut und werden belohnt.
Das muß an den Genen liegen,
naturgemäß herkunftsbedingt sein,
von der Liebe nach Dienstschluß
auf frischen Rapsfeldern kommen.
Zwischen Oder und Rhein stirbt unerlaubt
niemand, von Kopf bis Fuß ist hier jeder
im Grunde gesund. Es wird also Zeit,
den hochroten Kopf
im Geschichtsbuch zu lassen
und den blonden Himmel über Berlin
einmal gebührend zu loben,
die tüchtige Werksfrau,
die die Kameraden des Fortschritts
ordentlich an sich arbeiten läßt,
die Siemens AG und die ertragreichen Kühe
in Schleswig-Holstein. Ehrlich gesagt:
wir können doch stolz sein auf dieses
mein Vaterland mit so schönen Enten.
Und auf all deine Siege, Boris.
Wo es war
Ich wußte nicht mehr, wie wir uns trafen,
damals, in den Städten, in denen heute
die Hymnen verwaist
ihr Vaterland suchen. In den Ruinen
des letzten Krieges war eine friedliche,
vaterlose Stille zu finden.
Hier kam ich als Kind her, verstört,
hier ging es uns gut, hier war die Sprache
außerhalb des Körpers geblieben.
Später, an einer empfindlichen Stelle
der Biographie, brach, wie dem einen
die Stimme, dem andern
das Rückgrat, erinnere dich,
mir war das Glück des Verstummens
gegeben, wo es war.
Wo es war, hat das Gras schon zu wuchern
begonnen. Die kleine Senke im Boden,
in der ich von Liebe geträumt haben muß,
ist mit Schotter gefüllt, Lachen von Flußtang
und Öl, zerdrückte Aluminiumdosen,
ein Brandfleck. Auch diese Erde
hat ihre Geschichte verleugnet. Schon lange
war es dunkel geworden, als ich noch immer
bewegungslos dastand. Was ich hörte,
war fremd. Was ich dachte. Und es war Tag.
Das letzte Bild
Jetzt singen sie auf den Märkten
des Westens. Ich sah sie noch auf hohen Tribünen,
wir waren gerade verkleidet und spielten Pioniere im Land,
Adoptivenkel stolzer, russischer Folkloresoldaten.
Wie faules Obst von den Zweigen
stürzten später die Engel. Wer erwachsen genug war,
schaufelte die Gräber. Ihre Lieder änderten sich nicht.
Eine rote Nase aus Pappe aber vollendet das Bild
und erklärt, was die Texte verschweigen. Danke.
… zum deutschen Liedgut
Ich bin ganz von selber gegangen,
und fühlte mich doch wie vertrieben.
Ich bin sehr entschieden gegangen,
und wäre doch gern auch geblieben.
Ich wußte, ich müsse jetzt gehen,
kein Weg war ein Heimweg mir mehr.
Und doch blieb ich noch einmal stehen,
und Schnee lag schon hoch um mich her.
Was hatte ich hier noch zu suchen,
was hielt mich am lichtlosen Ort.
Die Liebe ging fort unter Buchen,
ich wollte ihr gültiges Wort.
Ich habe es nicht mehr gefunden
und habe auch nichts in der Hand.
Im Nebel ist alles verschwunden.
Wir hatten kein brauchbares Land.
»Frühjahrskollektion«
Gedichte
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 2002
96 Seiten, EUR 15,00
ISBN 3-518-41304-X