Kurt Drawert

Schriftsteller

Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften

Kurt Drawert wurde für seinen prosaisch-essayistischen Text Haus ohne Menschen. Ein Zustand der Ingeborg-Bachmann-Preis 1993 zugesprochen.
„Ich finde in ihm jene radikale Einsicht in Dinge und Verhältnisse und zugleich jene sprachliche Originalität, die die Literatur weiterbringt“ (Peter Demetz).
Bereits zu seinem 1992 erschienenen Roman Spiegelland. Ein deutscher Monolog (erschienen als Band 1715 in der edition suhrkamp) war in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: „Unter den vielen Versuchen ehemaliger DDR-Autoren ist Drawerts sprachkritischer Text die bislang angemessenste und der literarischen Form nach modernste Antwort auf den Zusammenbruch der DDR.“ Die nun vorliegenden Zeitmitschriften, die Haus ohne Menschen eröffnet, enthalten in den vergangenen Jahren entstandene Auseinandersetzungen mit der untergegangenen DDR: Erinnerungsarbeit, Spurensuche, Deutungsversuche – in Form von Kritiken, Essays und das neue Buch beschließenden Gedichten.

Zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1993 für »Haus ohne Menschen. Ein Zustand.«
Peter Demetz: »Ich finde in ihm jene radikale Einsicht in Dinge und Verhältnisse und zugleich jene sprachliche Originalität, die die Literatur weiterbringt.«
Werner Fuld: »Ich stimme für einen Text abseits der literarischen Moden und der zeigt, was Literatur sein sollte: daß Aufschreiben auch Erinnern ist. Der Text zeigt Bilder der Zerstörung von Menschen und Natur, deren apokalyptische Kraft wir nicht mehr vergessen werden.«

Wilfried Schoeller: » Das ist für mich der genaueste Text, den man nach dem Ende der DDR schreiben kann.«

 

Verena Auffermann: »Ein Requiem.«

Pressestimmen zu »Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften«

 

»Trauer über die verlorenen Jahre, Zorn über den Freund, der, indem er den Freund verriet, zugleich die Literatur verraten hat, prägen diese Essays. Drawert wehrt sich gegen die These von Mitläufern wie Verrätern, daß die Stasi nicht nur mit Verbot und Verfolgung die Literatur lenkte, sondern genauso über die Erlaubnis und Tolerierung bestimmter Werke. Es sind melancholische Betrachtungen über den Verrat der linken Intellektuellen, die, anders als Benn, Spengler, Jünger, Marinetti oder Pound, nicht einmal Gesinnungstäter, sondern lediglich Zyniker und Gesinnungsverräter waren.«

Aus: „Das Buch des Tages. Kurt Drawert: Haus ohne Menschen«, DIE WELT am 5.4.1994

 

»Im ›Verdrängungsprozeß einer gescheiterten Elite‹ erscheint in diesen Aufsätzen das wahre Dilemma jener, die sich einst als ›Unentbehrlichkeitsfiguren‹ des Realsozialismus aufführen konnten: ›Auf dem Hintergrund zahlloser Existenzen, denen das Rückgrat gebrochen ist, heben sie den eigenen verstauchten kleinen Finger als Beweis dafür, auch widersprochen zu haben.‹ Das hatten wir in Deutschland schon einmal. Verständlich, daß Drawerts Sympathie denen gilt, die ›in der Dunkelheit der Fabriken und in den Finsternissen der Geschichte zu finden sind, für die es niemals eine Gelegenheit gab, das Licht der Öffentlichkeit zu sehen, in dem die Intellektuellen sich selbstgerecht spiegelten. (…) Gerade eine westeuropäische Linke mit DDR-Sympathie hätte guten Grund, heute mit sich ins Gericht zu gehen.‹ Daß Drawerts Aufsätze in einem roten Suhrkamp-Bändchen erscheinen, ist wohl als symbolische Bußleistung und prompte Reaktion auf diesen Ratschlag zu verstehen. In Drawerts Attacken ist Notwendiges gesagt. Doch es bleibt ein Unbehagen. (…) Das Unbehagen resultiert vielmehr aus Erfahrungen, die das historisch Aktuelle auch als Exempel des historisch eher Normalen sehen. (…) Wie gesagt, Schufte bleiben Schufte, sind zu demaskieren und zu bestrafen. Doch es wird die Zeit kommen, da dieser Reinigungsprozeß ins Aporetische mündet, ja vielleicht demonstriert er heute schon seine Hilflosigkeit.«
Aus: „Nicht die Sünde selbst. Daher Erbarmen mit dem Sünder: Kurt Drawerts Zeitmitschriften« von Wilhelm Kühlmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung am 10.2.1994

 

»Doch bleibt Drawert nicht bei dieser kompromißlosen Absage an die Zerstörer der Glaubwürdigkeit stehen. Er ist davon überzeugt, daß manche Autoren daß, was er ›die Freiheit des Textes‹ nennt, unzureichend genutzt haben. Es wäre weit mehr und weit konsequenter möglich gewesen, diese Freiheit des Textes auch unter der DDR-Macht zu bewahren. Kurt Drawert (…) findet in den Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen zu einem luziden, schlanken und stellenweise auch polemischen Stil, Polemik freilich mit dem Florett ausgefochten. Dann aber, und das ist vielleicht der wichtigste und bedeutendste Teil des kleinen Buches, wendet sich der Autor der Grunderfahrung von Sprache und Freiheit zu. (…) Auf der Sprachebene, die sich Kurt Drawert durch Erinnerung und Reflexion erarbeitet, hat die neue deutsche Literatur eine Zukunft. Das Motto von Jean-Paul Sartre, das er für seine ›Zeitmitschriften‹ gewählt hat, gilt weder der Polemik noch der Klage, sondern der Freiheit des Textes: Wenn die Literatur nicht alles ist, ist sie der Mühe nicht wert. Das will ich mit ›Engagement‹ sagen. «

Aus: „Die beschädigten Jahre entsorgen. Zeitmitschriften von Kurt Drawert« von Anton Krättli, Neue Zürcher Zeitung am 8.12.1993

Auszug aus: Haus ohne Menschen. Ein Zustand.

… auflösen, wegwerfen, vernichten, verbrennen. Plötzlich war alles nur noch eine Frage des Loswerdens geworden, der Entsorgung, wie man jetzt sagt, der Entsorgung von Jahren …, beschädigte Jahre und vielleicht schon verloren, als es sie gab, mit dem schönen Stillstand der Zeit in den Briefen, in denen man seinen Körper, und wie er am Leben geblieben war, beschrieb, und mit der Empfindung für etwas, das man nicht kannte und das sich seine Wörter erfand …, und es war die Sonne, immer matt und verhangen im Dunst, stehengeblieben über dem Dachfirst des gegenüber anders sterbenden Hauses mit seinen fröhlichen Tauben …, und es hatte die mürbe, sinnlose Sonne diesen Ort nie erreicht, der ein Verlorenheitsort war zwischen all den anderen Verlorenheitsorten, die keinen Namen mehr haben und in keiner traumlosen Stunde der Nacht die Erinnerung streifen und ausgelöscht sind, eingeebnet, als wären sie nichts als der Staub abgeriebener Kreide gewesen, wie er unter der Holztafel lag und an den Schuhsohlen klebte und zur Schmutzspur auf den Fußböden der Schulzimmer wurde …, und diese Spuren waren schon Boten des Scheiterns, das die Schrift gebracht hat hoch oben weiß auf schwarzem Grund …, und es war dieser Schulzimmerstaub schon die Wahrheit vor der Leere der Sätze, die wir auswendig lernten an langen, schmutzigen Spätsommertagen auf den kalten, verlassenen Bänken am Rande der Städte. Der Staub, wie er für Augenblicke noch leicht in der Luft lag und zu sehen war im gebrochenen Licht, das, wie ein Geheimnis der Ferne, durch die Schräge aufgekippter Dachlukenfenster hereinbrach in die Dumpfheit des Unterrichtszimmers. Und es war, als erzählte der Staub, ehe er sich niedersenkte zur Erde wie Schnee, schon die Geschichte der Zukunft, die nun, in ihrem schwarzen Finale, eine Geschichte ohne uns ist. Aber uns waren die Zeichen damals nicht lesbar, aber es kann auch eine Ahnung in uns gewesen sein, aber dieser Staub nun war Schmutz, und die Sätze hoch oben weiß auf schwarzem Grund haben ihre Wahrheit erreicht, die nichts als die Auflösung ist, wo sie das Paradies werden sollte. Die Ideen sind erfüllt, erfüllt und vollendet …, vollendet im Schmutz, wie er von der Straße durch die undichten, vom Außenrahmen nach innen voranfaulenden Fenster dringt und sich auf den Gegenständen festgesetzt hat als eine schmierige, mit allen Ausdünstungen der Stadt und des restlichen halben Lebens dieser Stadt vermischte, graugelbe Substanz. (…) Und das plötzlich hochmütig gewordene Aristokratenproletariat hat auf seine Weise ganz recht, jeden Kontakt mit der Herkunft des Körpers des Landes und seiner Sprache zu verweigern und die eigenen Hervorbringungen, wenn überhaupt, nur noch mit erhobenem Kopf und spitzen Fingern vom Boden zu heben. Alles, was war, gewesen ist, hat seine Zugehörigkeit und Abkommenschaft verloren, und niemand, heute, hat noch irgend etwas, im Schutt der verbrauchten Bilder, zu finden, was es, für ihn, verdient hätte, gefunden zu werden, bewahrt und sprechend bewegt zu werden, und so wird alles, von nun an, sprechend in Vergessenheit geraten, um so, sprechend, von Anderem zu berichten und das Werk endlosen Erfindens, von nun an, zu beginnen, und ich bin ganz ohne Zuneigung für alles, was zu erwarten sein wird, was mich umgibt, was mich umgeben hat, was zu mir gesprochen hat und was zu mir spricht. Es sind Lügenapparaturen, installiert an den gleichen inneren Orten von gestern und eingegangen ins Fleisch vieler dieser Menschen, und so sind die Körper von Lüge durchzogene Körper, und so wird das Gedächtnis eine öde, eingeäscherte und begriffslose Landschaft sein und den Grundriß abgeben und das Bauland für eine nächste erbarmungslose, zerstörerische Utopie. Und jede Utopie ist eine zerstörerische und leugnet die Realitäten und bereitet die Abgründe auf, die durch Leugnung sich auftun und sich aufgetan haben und nichts außer kranke und krankmachende Verhältnisse produzieren und produziert haben. (…) Und ich werde, von hier aus, von diesem Ort aus, an dem ich mich nur noch schmutzig machen kann, vom Fenster dieses Raumes aus werde ich es noch zu sehen bekommen, wie die Parthe an dem Dreck ersticken und ins schöne Erdreich absickern wird.

»Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften«

Essays

Suhrkamp Verlag 1993

es 1831, 120 Seiten, DM 14,80
ISBN 3-518-11831-5