Kurt Drawert
Schriftsteller
Mit diesem Buch legt Kurt Drawert nicht nur ein Handbuch zum Schreiben vor, sondern auch einen Versuch über das, was Schreiben im radikalen Sinne bedeutet. Ebenso bietet er Einblicke in die Praxis des Schreibens und bespricht Probleme poetischer Techniken anhand von Beispielen und Exkursen.
Autorinnen und Autoren, die tiefer in das Geschehen ihrer Arbeit eindringen wollen, aber auch alle anderen, die Einsichten in die Entstehungsgeschichte literarischer Texte suchen, über ihre Wirkung und Kriterien zu ihrer Beurteilung nachdenken möchten, werden hier reich belohnt. Es geht auch um das Verhältnis von Talent und Handwerk, Schreibanlass und Schreibumgebung und immer um die Frage: Wie wird aus Normalsprache ein poetischer Text, was wird unter welchen Bedingungen Literatur? Und da die ganze Person in allen ihren Beziehungen im Akt des Schreibens anwesend ist, muss, um gut oder besser oder anders schreiben zu können, auch die ganze Person in Betracht gezogen werden.
SWR Bestenliste im Januar 2013
Platz 2 Kurt Drawert: ›Schreiben. Vom Leben der Texte‹
»Schreiben, das liegt vom Scheitern nur einen Buchstaben entfernt. Aber gerade weil das so ist, lernen wir von der Literatur, wie zerbrechlich unser Leben ist, wie offen, wie flüchtig. Der Lyriker und Romancier Kurt Drawert schreibt ein Plädoyer für die unbedingte Notwendigkeit von Dichtung, der ›Lichtkegel in der Finsternis unserer Welt‹«
»Drawerts ›Schreiben‹ ist ein verlässliches Antidot gegen literarische Naivität. Es handelt sich – im Kern – um eine subtile Psychoanalyse der Literatur und um eine Kulturgeschichte der Schreibwerkzeuge, inspiriert von den klugen Köpfen des französischen Strukturalismus. In drei grossen Kapiteln entwickelt der Autor eine Psychophysik des Schreibprozesses, erkundet sehr ausführlich die Störungen und Defekte und Blockaden, denen Schreibende unterliegen – und auch die Möglichkeiten ihrer Überwindung.«
Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung, 12. März 2013
»›Schreiben. Vom Leben der Texte‹ ist ein essayistisches Potpourri aus frischen, klugen und schwerwiegenden Gedanken zur Sache. (…) Für Literaturenthusiasten, die wissen, dass manche Bücher auch erobert sein wollen, ist Kurt Drawerts Essay (…) ›Schreiben. Vom Leben der Texte‹ ein unerschöpflicher Quell überraschender Einblicke.«
Brigitte Neumann, Deutschlandfunk, Der Büchermarkt, am 7. März 2013
»Der Lyriker Kurt Drawert entwirft mit seinem Buch ›Schreiben“ eine faszinierende und komplexe Theorie der Literatur.
In Dresden wurde der Lyriker Kurt Drawert Zeuge, als eine Opernsängerin ausgerechnet bei einer berühmten Arie der ›Zauberflöte‹ den höchsten Ton nicht erreichte und kläglich scheiterte. Der Besucher erlebte es so, ›als wäre mir ein Messer zwischen die Rippen gefahren‹ – es habe eine ›ewige Sekunde‹ gedauert, ›ehe die Sängerin, konsterniert und um ihren guten Ruf gebracht, den Ton etwas tiefer ansetzte und die Arie beendete“. Was dieser Schreckensmoment mit den Grundlagen der literarischen Produktion zu tun hat, erörtert Drawert in einem bemerkenswerten Buch mit dem nüchternen Titel ›Schreiben‹ – als Beispiel unter vielen. Es wäre schade, wenn dieses Buch, im Oktober publiziert, unter den Neuerscheinungen der anrollenden Frühjahrsproduktion vorschnell begraben würde – das Frühjahr beginnt schließlich für viele Verleger schon im Januar. Ein begeisterter Hinweis von Fritz J. Raddatz in der ›Welt‹, ein zweiteiliger Vorabdruck in der „Neuen Zürcher Zeitung“, viel mehr gab es bisher nicht. Immerhin: Drawerts Buch steht in diesem Monat an zweiter Stelle auf der Bestenliste des SWR. (…)«
Volker Hage in DER SPIEGEL, 2/2013
Vollständiger Artikel als pdf-Datei (2,37 MB)
»(…) Den Dingen auf den Grund zu gehen, heißt bei ihm auch: den Antrieb des Schreibens zu erkunden und jene Schwelle, an der eine Mitteilung zur Literatur wird. (…) Und so ist das, was Drawert über das Schreiben schreibt, dazu geeignet, das Lesen zu verändern. Über Jahre hinaus werden diese anregenden, bisweilen humorvoll formulierten Gedanken ein lohnender Vorrat sein nicht nur für Autoren, sondern für Leser, die sich mit den Bedingungen ihrer Wahrnehmung beschäftigen wollen. (…)«
Johannes Breckner in: Darmstädter Echo, 4. Januar 2013
»Kurt Drawerts Werk – ob Lyrik oder Prosa – ist durchweg von extrem strengem artistischen Bau. Nun hat er einen luziden Essay vorgelegt, den man füglich eine ›Baumeister-Lehre‹ nennen kann: Überlegungen zum Handwerk des Schreibens wie zur gedanklichen Anstrengung, die gelungener Literatur stets zugrunde liegt. Mit hochsensibler Sonde lotet er das Magma aus, das unter jeglicher Kunstproduktion pulst. Damit ist Drawert eine vollständig eigene Poetologie geglückt von fast halsbrecherischer Intellektualität. Im Geschwätz-Meer des alltäglichen Kulturbetriebs eine Insel für alle Kunst-Seligen, die noch Freude haben am Nachsinnen über das Geheimnis der Wörter. Und die sich nicht scheuen davor, dass ihnen Arbeit abverlangt wird, um zum Genuss zu gelangen – ob an Ovid, an Bach oder Bacon. Drawerts Essay lässt uns in seiner störrischen Eleganz wissen: das kostbare Geschenk namens Kultur will sorgsam ausgewickelt werden. Das Buch ist ein Geschenk.«
Fritz J. Raddatz in: DIE WELT, Literarische Welt, 8. Dezember 2012
»So brillant, tiefsinnig und seiner selbst bewusst hat man schon lange keinen Dichter mehr über das Dichten schreiben gesehen.«
Harro Zimmermann, Radio Bremen, 17. November 2012
Inhalt
Kommen und Gehen (I)
I. TEIL: BEDINGUNGEN
0. Vorbereitung. Anfänge.
1. Lesung: Der Andere. Das Andere.
Das starke Subjekt und das schwache
Die ersten Formen der Spaltung
2. Lesung: Der Text für sich. Die Stimme der Mutter.
Subversionen der Arie
Den richtigen Ton finden
3. Lesung: Ahnungen. Zwischentexte.
Gedächtnis und Erinnerung
Männliche und weibliche Texte
Was heißt »verstehen«?
4. Lesung: Masken. Spiele. Triebstrukturen.
Mythische Bildungen: Der »stehende Text«
Die Sprache streikt: Blockaden
Die poetische und die pathologische Metapher
5. Lesung: Schreiben ist physisches Tun ganz unmittelbar
Handschriftlichkeit und Digitalschrift
Der entrissene Text. Internetmodus.
Soziale Auskoppelungen. Idiosynkrasie.
Psychose und Produktion
II. TEIL: BILDUNGEN
6. Lesung: Sphären (I): Literaturbildungsprozesse
Erfolge gibt es keine. Aber gute Autoren.
Gegenpole
Tagebücher
Briefe
Was ist Kitsch? Eine Körperverletzung.
Jurys
Textwerkstätten
Therapeutische Initiationen
Die literarische Kritik
Das Buch ist eine Meinung zum Text
7. Lesung: Sphären (II): Die Verpflichtung zur Lust
Der Text und die Stimme. Konstative und Performative.
Die öffentliche Lesung. Zeremonien.
Ein Schauspieler liest
Der Autor liest
Gut lesen oder schlecht. Gern oder gar nicht.
Noch einmal Kleist
Metaphern der Bühne
Ich ist nicht Ich. Formen der Selbstverwaltung.
III. TEIL: TECHNIKEN
8. Lesung: Struktur und Ornament. Zur Rhetorik der Zeichen.
Sprechakte. Interjektionen.
Die Rhetorik der Zeichen
Vom Rhythmus
Metaphern (II)
Ironie
Pathos
Klischees
9. Lesung: Orte der Prosa. Die Zeit und der Blick.
Standorte des Erzählens
Erzählperspektiven
Der auktoriale Erzähler
Der Ich-Erzähler
Der personale Erzähler
Der neutrale Erzähler
Erzählte Zeit. Zeit des Erzählens.
Erzählmuster
10. Lesung: Orte der Lyrik. Strahlkraft der Worte.
Die Dominanz der Hypertexte
Jakobson und Mukařovský: Die Prager Schule
Saussure und Bühler: Zwei Modelle
Wie Gedichte entstehen
Poesie und Religiosität
Klopstock
Reform und Verfall: Der freie Vers
Die Rückkehr der Mutter
Dispersionen der lyrischen Rede
Parallelismus
Die Macht der Reime
Metaphern (III)
Kommen und Gehen (II)
Wortregister
Literaturregister
Namensregister
Textauszug
Kommen und Gehen (I)
Bei Lacan habe ich einen Satz gefunden, der mein Anliegen, über das Schreiben zu schreiben, fast buchstäblich zum Ausdruck bringt: »Liebe ist, wenn man gibt, was man nicht hat.« Dieser Satz bezeichnet ein Paradoxon und ist zugleich eine Aufforderung, es anzuerkennen und sich einzulassen darauf. Mit anderen Worten: Das Unmögliche zu verschenken, ist das Mögliche dessen, der liebt. Wie nun ließe sich besser erklären, worum es mir in diesem Buch geht – nur eben bezogen auf die Literatur, die genau dort ihren Platz hat, wo sie etwas dauerhaft Abwesendes mit Sprache durchdringt und damit auch vorstellbar macht. Mein Text zu diesem schier unendlichen Thema bewegt sich in Form einer Terzine. Das hat sich aus dem Material so ergeben. Die Motive, die sich wiederholen, sind jedoch nie Wiederholung an sich, sondern Übergänge in einen anderen, neuen Verlauf. Genau das regelt die Terzine auch: sie kehrt in ihrer Verpflichtung zum Reim immer auf den zweiten Vers der letzten Strophe zurück, um dann zwei Verse voranzukommen. Ihre Langsamkeit wird so zur Genauigkeit des Denkens, das seinen Abschluss oft erst in einer Parallelfigur findet. Das gefällt mir gut. Ebenso gefällt mir, mich in Begriffen zu bewegen, die schon festgelegt und eingeführt sind. Es erspart Zeit. Außerdem sind sie aus ihren jeweiligen Denksystemen nicht beliebig und ohne Verlust an Verständlichkeit und Sinn herauszulösen. Ich werde sie, wo ich sie als bekannt nicht voraussetzen darf, erläutern, zumal ihre Verwendungen auch in der enzyklopädischen Literatur nicht einheitlich geregelt sind und entsprechend kommentiert werden sollten. Die Markierung (*) hinter dem betreffenden Wort signalisiert den Kommentar, der sich im Wortregister am Ende des Buches befindet. Dabei erhebe ich keinen Anspruch auf Geltung und möchte nur, dass ich so verstanden werde, wie ich verstanden habe, was ich erzähle. Ebenso kurz möchte ich die Fußnoten zur verwendeten Literatur halten, die im Literaturregister dann vollständig erscheint. Stehen zwei Jahreszahlen nebeneinander, bezieht sich die erste immer auf die Erstveröffentlichung und die zweite auf die Auflage oder Übersetzung, wie sie mir für meine Arbeit vorgelegen hat. Und nun danke ich allen, die sich mit mir auf einen Weg begeben, der genaugenommen nirgendwo hinführt und schön allein dadurch ist, dass es ihn gibt.
I. Teil
Bedingungen
Vorbereitung. Anfänge.
0. »Im Anfang war das Wort (…)«. Das, zum Beispiel, ist ein Anfang, wie er besser nicht sein kann. Die Aussage ist performativ, Aufruf und Gegenwart des Aufgerufenen fallen im Sprechakt zusammen. Es gibt nicht einmal ein kurzes zeitliches Nacheinander, wie es das lineare Lesen erzwingt, denn »Im Anfang« (und nicht »Am Anfang«) verweist auf Gleichzeitigkeit von Benennung und Erschaffung. Im selben Moment also, in dem das Wort ausgesprochen wird, ist es Materie und gilt. Zu vergleichen nur noch mit einem Bekenntnis der Liebe während des Liebesvollzugs. Der Einführungssatz (die eröffnete Klammer der Geschichte) ist damit gesetzt.
0.1. Erste Sätze sind insofern die schwierigsten, als sie eine Begründung zu liefern haben, warum ihnen ein zweiter Satz folgen soll. Dem Verfasser des ersten Satzes ist diese Begründung nicht klar, denn er schreibt vom Ende seiner Geschichte her, von der aus ein Sinn auf den Anfang zurückführt. Das Ende, von dem aus er seinen Anfang setzt, ist nicht das vollendete Ende der Geschichte, aber es ist das Ende seiner Vorstellung von ihr. Ohne auch nur ein Wort schon geschrieben zu haben, liegt sie dem Schreibenden bereit, und er vergisst darüber, dass der Lesende nichts von diesem Vorwissen weiß und mit dem ersten Satz genau darauf gebracht werden will. Denn nicht der Schreibende, sondern der Lesende hat das Problem der Begründung des zweiten durch den ersten Satz. Und wenn sie der erste Satz nicht liefert, fällt das Problem auf den Schreibenden zurück, denn der Lesende hört gleich zu lesen wieder auf und macht etwas anderes.veröffentlichungen
»Schreiben. Vom Leben der Texte«
Monographie
Verlag C. H. Beck, München 2012
288 Seiten, gebunden EUR 19,95
ISBN 978 3 406 63945 6
SWR Bestenliste Januar 2013, Platz 2