Kurt Drawert

Schriftsteller

Revolten des Körpers

Der Ausverkauf der Leere. Essay

Der Ausverkauf der Leere. Der Standort.

… Aber wenn die Leere keine komplementäre Funktion mehr erfüllt …, ein Nicht-Sinn, durch den sich ein Sinn erst hervorbringen kann und der einem Sinn anhängen muß … wie den Dingen ihr Schatten anhängt, schon allein existiert …, und wenn es keine Sprache mehr gibt, die über den Verlust der Sprache Auskunft geben kann, und wenn kein Bild mehr die Schuldigkeit der Bilder beschreibt, wenn das in Umlauf gebrachte Falschgeld zur Währung geworden ist, überall Falschgeld, überall von Wert, wenn im matten, gebrochenen Auge des Todes das Leben sich zu spiegeln beginnt, und alle erkennen es wieder und niemand, der sagen könnte, es ist nichts in diesem verloschenen Blick, so wie ein Geistesschwacher auch niemals sagte, daß er geistesschwach ist, denn es gibt kein Bewußtsein über das Bewußtsein und keine Sprache über die Sprache und kein Bild über die Bilder, und über die Leere gibt es keinen höheren Sinn, sie kreist ihn ein, sie setzt sich fest ins Innere seines Wesens, verdrängt ihn, stößt ihn über die Grenzen, herrscht, ein Herrensignifikant, die Leere ist der Herrensignifikant, aber seit wann …?, warum kann ich kein Gedanke mehr sein …?, ist das Subjekt gerade dort, wo die Inhalte beseitigt wurden, vollendet … und warum?

… Aber es ist ja schon eine Sucht eingetreten, keinen Sinn mehr zu finden. In der bewußtlos machenden Beschleunigung der Ereignisse bleibt noch die rhetorische Behauptung vertreten, es sei Geschichts-Materie, die bewegt sei; sie sei nur in eine Geschwindigkeit gebracht, die es dem einzelnen nicht mehr gestatte, sie verfolgen zu können – so als säße er in einem Flugzeug und hätte sich damit abzufinden, daß er keine Einzelheiten mehr wahrnimmt. Auf einem Monitor sieht er dann einen Film von der Landschaft, die er gerade überfliegen soll; aber wer sagt ihm, daß es diese Landschaften gibt und daß sie nicht mediale Ablagerungen, synthetische Bildprodukte sind? Wer sagt überhaupt, daß die Bewegung nicht das letzte noch funktionierende Täuschungsmanöver darüber ist, daß nichts mehr bewegt wird und nichts mehr bewegt werden kann; daß wir es mit bloßer Anti-Materie zu tun haben (und mit Anti-Dichte und mit Anti-Zeit); daß die Wirklichkeit eine ausgelöschte Wirklichkeit ist und lediglich noch als virtuelle Referenz auf einem Bildschirm existiert; daß, bremste man die Entwicklung und brächte man den allmählichen »Verbrennungsprozeß des Realen« derart zum Halten, daß die Ereignispartikel von ihrer in die Spurenlosigkeit sich verflüchtigenden Umlaufbahn gebracht und auf die Ebene der Geschichtlichkeit zurückgeholt werden würden, nicht ein Schock eintreten müßte, eine »Erstarrung« der gesamten gesellschaftlichen Zirkulation in Anbetracht ihrer Nichtigkeit, ihres Nichtvorhandenseins?, denn was uns umgibt ist nurmehr aufgewirbelter Staub …

In einem Witz sagt der Abteilungsleiter zu seinen Mitarbeitern, er könne nicht in den Urlaub gehen, da er danach ein solches Chaos vorfände, daß ihn darüber nur noch der Schlag treffen kann. Als er sich schließlich überreden läßt, doch in Urlaub zu gehen, findet er keine Ruhe und stellt sich die unmöglichsten Schwierigkeiten vor. Vorzeitig verläßt er seinen Ferienort, und als er in den Betrieb zurückkommt, sieht er, daß alles ganz fabelhaft läuft. In dem Momet ereilt ihn der Schlag. – Wie auch könnte er seine Entbehrlichkeit überleben? Hätte er nicht besser daran getan zu behaupten, ohne ihn ginge es nun einmal nicht, um zu bleiben, wo er nicht hingehört? Das heißt: wir können die Geschwindigkeit nicht mehr drosseln, oder wir stürzten aus allen Höhen wie ein Mondsüchtiger, der angerufen wurde.

Immer wieder stoße ich auf dasselbe Phänomen: je weiter jemand aus einem Kommunikationsnetz herausgedrängt ist – etwa durch Arbeitslosigkeit, Pensionierung oder Krankheit –, desto stärker »verdichtet« er dieses Netz, indem er sich vollkommen unnötig mit technischen Geräten ausstattet. Tatsächlich aber verdichtet er nur die Kommunikation, wo sie leerläuft, das heißt, er produziert sich quasi ein »Ersatznetz«, dessen Sinn es ist, nicht benutzt zu werden. Schon das Telefon, wo es nicht läutet, ist ein solches Schein-Netz des Austauschs. Im Grunde gibt es die Information, daß es keine Information gibt, bis daß es einmal, zweimal oder dreimal läutet. Die Bedeutungsgebung des Besitzers funktioniert aber in reziproker Weise zur tatsächlichen Bedeutung: wenn es einmal, zweimal oder dreimal geläutet hat, dann hat mich eben nur einmal, zweimal oder dreimal eine Information erreicht, während in Wahrheit eine kontinuierliche Folge von Informationen, für die das Gerät der symbolische Wert ist, bereitgelegen hat. Mit einer Erweiterung des »Ersatznetzes« erweitert sich demnach auch das Kontaktband zur Welt, wenngleich auf einer Minus-Achse (…denn so viele Informationen, wie es für mich in der symbolischen Weise meiner Geräte gibt, kann ich gleichzeitig gar nicht empfangen). Am Ende einer negativen Folge bedeutet das schließlich, daß die perfekte Kommunikation die ist, die nicht stattgefunden hat (weil es zuviele Geräte dafür gibt), die aber alles Überbringenswerte überbracht hat (weil die Geräte mein Eigentum sind und bereitstehen für mich, und weil sie sprechen, wo sie stumm sind). Allein der Blick auf dieses »Ersatznetz« genügt, mich angeschlossen zu fühlen, wo ich abgekoppelt bin. Und so läutet und fiepst permanent ein Wecker im Hosenschritt eilig von Nichtverabredung zu Nichtverabredung dahinstürzender Leute. Schließlich kann man sie schwitzend in Gaststätten sehen, wie sie zwischen den Gabelbissen nie wieder dechiffrierbare Notizen machen und den Kopf gegen das Schulterblatt pressen, um den Hörer zu halten. Selbst die Hausfrau von gegenüber hat schon ihr transportables Telefon im Gemüsekorb, wenn sie vor die Haustür tritt. Je dicker ein Terminkalender ist, je weniger hat einer tatsächlich zu tun, das ist die Regel, und je mehr er sich in Betriebsamkeit bringt, je unwahrscheinlicher ist es, daß es einen Betrieb für ihn überhaupt gibt. Die hektischen Rotationen des gesellschaftlichen Lebens bestehen heute dem Wesen nach darin, leere Säcke zu verschieben und vergessen zu machen, daß es sich dabei um hypertrophierte Formen von praktischer Ausschüssigkeit handelt. (…)

»Revolten des Körpers«

Essays
mit 12 Fotografien von Ute Döring

Edition Solitude, Stuttgart 1995

80 Seiten
ISBN 3-929-085-22-4