Kurt Drawert

Schriftsteller

Rückseiten der Herrlichkeit

Die Texte dieser Sammlung, ob sie vom Reisen „bis ans Ende der Welt“ handeln oder kritische Analysen zu Kultur und Gesellschaft liefern, ob sie narrativ oder reflektierend, Texte oder Kontexte sind, ein Motiv haben sie gemeinsam: aus der Erfahrungsdifferenz einer ost- und einer westeuropäischen Geschichte entstanden zu sein und im Blick des Betrachtens zur Gegenwart zusammengefügt zu werden; einer Gegenwart der gesprengten Räume und vertauschten Bezüge von Realität.

»Kurt Drawert, essayistisch begabt wie alle Lyriker und noch dazu einer der ungekämmtesten Geister, die aus der DDR ins gemeinsame Deutschland hinüberwuchsen, legt hier seine klugen und amüsanten, teils unerfreulichen Einsichten ins noch immer existierende Nebeneinander bei beiden Gesellschafts- und Seelensystemen dem überraschten Leser vor.«

Jens Jessen, DIE ZEIT, 9.8.2001

 

»Ob als Reisender, als Lesender oder als Schriftsteller, Drawert ist in allen seinen Texten auf der Spur von dem, was sprachlos macht. So wird Schreiben ein Sichwehren gegen das Verstummen, Zeugnis der Ratlosigkeit, die gleichwohl Antworten vorzuziehen ist, weil sie unseren Möglichkeitssinn offen hält, uns erinnert, wo Vergessen droht. Der Besuch in Auschwitz gehört dazu (nein, kein Besuch! – ein plötzliches Bewußtwerden des Da-Seins an dem Ort der Vernichtung, Oswiecim), die Begegnung mit dem sterbenden Freund, angesichts dessen die Rede von der ›Krankheit‹ (…) radikal aufhört, Metapher zu sein. Und vielleicht ist es ja vor allem der Luxus der Selbstversenkung in ein Gedicht, die Muße, was einen heutzutage vor allen anderen zum Ausgestoßenen macht. Was der in Darmstadt lebende 45-jährige Autor zu erzählen weiß, gehört zum Riskantesten, Verstörendsten und – man muß es im gleichen Atemzug sagen – zum ästhetisch Herausragendsten, was unsere derzeitige Prosa zu bieten hat. Drawert ist ein Meister im Aufspüren von Ressentiments, unterschwelligen Aggressivitäten, menschlichen Verstrickungen. (…) Wer die Verunsicherung durch das geschriebene Wort liebt, der wird von Drawerts Texten in den Bann gezogen, jenen, die von der Mühe des Erzählens künden, und jenen, die uns durch ihr Verschwiegenes ansprechen. Es stimmt schon: ›Sehen ist kein Zustand, sondern eine Entscheidung‹ … ›Die Dinge aber, die angeschaut werden, schauen zurück an der Stelle, an der wir blind für sie sind. Und sie sprechen, wo eine Antwort unerwartet war.‹ – «

Iris Denneler, Neue Zürcher Zeitung, 31.5.2001

 

»Kurt Drawert, der in Hennigsdorf Geborene und in Dresden Aufgewachsene, vereinigt in sich, in seinem Schreiben, vielleicht aber auch in seiner Mentalität, West und Ost. Durchaus in jenem Sinn, wie er die Himmelsrichtungen politisch-kulturell definiert: herrührend nämlich schon aus der Spätantike mit der Aufspaltung des Römischen Reichs in einen west- und einen oströmischen Teil (…). Dieses Amalgam macht seine Gedichte, seine Prosa, die Reisebschreibungen von der Elbe oder von Polen, aber auch seine Essays in unserem Literaturbetrieb so unnachahmlich und kostbar. (…) Gedankenreichtum, Schärfe der Analyse, eine Sprache, die trifft – und ein Schweigen umfaßt, das die Texte durchdringt, sie gewissermaßen sättigt. Selbst da bleibt Kurt Drawert seinem Thema treu. Und dennoch: Seine Texte sind anspruchsvoll, jedoch nie schwierig (…) Vielleicht das größte Kompliment für einen Dichter der Gegenwart.«

Hans-Georg Soldat, NDR, 23.5.2001

 

»Heute ist es eine Abenteuerreise, übers Reisebüro zu buchen: mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau quer durch Sibirien, in eine Gegend, die von hier aus dem Ende der Welt sehr ähnelt. (…) Der aus Hennigsdorf stammende, in Darmstadt lebende Dichter Kurt Drawert hat diese Reise gemacht, durch Rußland, wie es darniederliegt, mit einem Verkehrsmittel aus einer anderen Zeit. (…) Mit präziser Beobachtung der Welt und seiner selbst gelingt ihm, diese Suche zu beschreiben und die Fragwürdigkeiten all dessen, was er dort findet (…). Die Welt vor dem Fenster erkennt er als Oberfläche, als Außenseite von etwas Unergründbarem, so daß er nie dem malerischen Elend den Schmelz des Romantischen einhaucht. Seine Genauigkeit der Beschreibung, der schroffen historischen Begründung, des immer neuen Fragens gibt dem Text nicht die Güte eines gelungenen Reiseberichts, sondern eines geschliffenen Essays über das Reisen, ja, einer Dichtung mit Wurzeln in Ort und Zeit und dem Wipfel hoch über dem Spaß an bunten Bildern.«

Gundula Sell, Sächsische Zeitung, 11.9.2001

Das Theater am Ende seiner Selbstaufgeklärtheit

(»Underground«)

Es war ein glücklicher Umstand, daß ich Kusturicas »Underground« zuerst in Italien als ein in jeder Beziehung Fremder gesehen habe, der weder zu der Sprache der Dialoge, noch zu den Orten der Handlung gehörte. In gewisser Weise saß ich in diesem Kino ebenso verirrt wie einer jener Soldaten, die unter der Erde einen Krieg weiterführten, der im realen Leben der Welt lange schon Historie geworden war. Gerade aber meine naive, allein auf die Bildfolge konzentrierte Zuschauerposition verschaffte mir einen Zugang, wie ich ihn in Deutschland vielleicht nicht gehabt hätte. Denn der Film (und die zahlreichen Nebenverweise überzeichnen es etwas) handelte in der Hauptsache nur von einem: von der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren in der Gegenwart. Dieser gewaltige Kurzschluß zweier zeitverschobener Phasen von Geschichte, das allein ist sein großes Thema, und die gewiß zweifelhaften politischen Bemerkungen (der Aggressionskrieg der Serben sei ein verlängerter Partisanenkampf gegen den Faschismus usw.) gehören ihm eher schon an, als daß sie es bestimmen. Ich kenne jedenfalls keinen anderen Film, der die Konflikte nicht mehr allein inhaltlich, sondern aus den Zeiten heraus, in denen die Inhalte ihre Schlüssigkeit besaßen, vorgeführt hätte und der genau darin die Voraussage war, daß das Jahr 2000 bereits 1990 mit dem Zusammenbruch des Ostens begann. Die Tragödie, die sich bei Kusturica im Komischen (und nicht etwa im Absurden) zeigt, ist die radikale Nichtansprechbarkeit, wie sie zwischen den Einzelnen der in sich verschlossenen Parteien ebenso herrscht wie zwischen den Parteien selber, die jeweils einer anderen historischen Matrix angehören. Der Krieg ist demnach nicht mehr lediglich das Gemetzel auf einem Schlachtfeld (denn das ist schon die Zusammenfassung des Krieges), sondern er beginnt auf der Ebene einer gestörten Vermittlung in sich geordneter, nicht aber kontaktbegabter Diskurse. (Nichts anderes haben wir wenige Jahre später im Kosovokrieg erlebt, der weniger mit Milosevic als ein inkarniertes Böses zu erklären war als damit, daß er über eine Gefolgschaft verfügte, die seine Ansprüche einzulösen bereit gewesen ist; und nichts anderes auch macht den Rechtspopulisten Haider gespenstisch: daß er kollektiven Zuspruch erfährt und eine politische Latenz zur Sichtbarkeit bringt, die ohne ihn unfaßbar wäre.) Das ebenso erregend wie bedrückend Neue bei Kusturica nun ist, daß diese Diskurse, unfähig, einander eine Antwort zu geben, in Beziehung treten müssen, da es keine Grenzen mehr gibt, die sie daran hindern könnten. Denn die dünne Erdschicht zwischen Unter- und Oberwelt ist derart porös geworden, daß sie schließlich aufbricht und die Gespenster aus den versunkenen Tiefen der Vergangenheit ans Licht bringen läßt. (Unvergeßlich die Szene, in der die Kellermenschen aus dem Untergrund auf die Oberwelt kommen, wo gerade ein Film über sie gedreht wird, der für den Moment des Zusammentreffens von realer Person und szenischem Double sich selber beendet und zu einer blutigen Tatsache wird.) Und genau das ist die geniale Metapher, die den Konfliktstoff des 21. Jahrhunderts benennt: die Nötigung zum Kontakt sich einander ausschließender kultureller Systeme, die solange souverän nebeneinander existieren konnten, solange sie in den verschiedenen Ordnungen von Zeit und Geschichte eingebunden waren. Nichts hat das 20. Jahrhundert stärker bestimmt (und auch stabilisiert), wie dessen Bipolarität. Die großen rivalisierenden Imperien haben sich ein gigantisches Bedeutungszuspiel geleistet, dessen gesicherter Rückverweis auf die eigene Legitimität gerade in der geheimnisvoll bleibenden Chiffre des jeweils Anderen lag. Der Verlust dieser Chiffre durch die Offenbarung, substanzlos und eine bloße Zuschreibung gewesen zu sein, entspricht nun durchaus jenem eben erwähnten Akt von Begegnung der Person mit ihrem Wiedergänger im Film: die Kraft des Imaginären, die sich allein aus der Differenz zweier zeitlicher Ordnungen herstellt, verlischt und wird zur Verletzlichkeit als einer Schwäche des Realen. Nicht daß der Osten als eine zweite Realität verschwunden ist (denn schließlich war er kaum mehr als ein szientifistischer Westen in seiner Rückständigkeit), ist das Problem, sondern daß er nun kaum mehr sichtbar im Kreislauf des Westens erscheint und eine Leerstelle eben dort zurückläßt, wo sich ein Transfer von Konflikten (zum Beispiel über die Produktion von Utopie) einmal einrichten ließ. Denn »der Kommunismus war ein einziger Keller«, heißt es am Ende des Filmes, und Bosnien, »das ist der wirkliche Krieg, der endgültige« (weil eben dieser Keller gesprengt ist). Exakt diese Leerstelle aber ist die Hinterlassenschaft des 20. Jahrhunderts, die nicht nur zwei Zeitrechnungen ineinanderstürzen läßt, sondern auch die ihnen angehörenden Subsysteme. Und ob nun der Osten ein Osten des Westens oder der Westen ein Westen des Ostens geworden ist, wird die Zukunft noch mitzuteilen haben. Klar ist, daß auf diesem Hintergrund einer Zwangssymbiose ehemals getrennter Gesellschaften auch eine veränderte ideologische Komplexität entstanden ist, die nicht mehr rückübersetzt werden kann auf die bekannte politische Asymmetrie bis 1990. Von daher kann es auch keine Kopie des 20.Jahrhunderts mehr geben, wenngleich dessen Merkmale weiter in Fluß bleiben und rhetorisch zirkulieren werden. Und von daher sind auch die Paradigmen zerstört, die solange ihre Gültigkeit besaßen, solange sie in ihrem eigenen Regelkreislauf blieben. (…)

»Rückseiten der Herrlichkeit
Texte und Kontexte«

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001

234 Seiten, EUR 19,95
ISBN 3-518-12211-8